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Experimente belegen, dass der erste Anker wirkt. „Gegenanker“ bleiben weitgehend wirkungslos. In einer nicht veröffentlichten Studie wiesen Englich und Rost[13] nach, dass alleine die Änderung der Reihenfolge bei den Schlussvorträgen von Staatsanwalt und Verteidiger das Urteil entscheidend beeinflusst.[14]
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Misslich für die Verteidigung ist die Erkenntnis, dass Ankereffekte weder durch Aufklärung noch durch besonders starke Motivation entscheidend korrigierbar sind.[15] So bleibt in der Hauptverhandlung lediglich die Möglichkeit, an den Stellen, an denen die Fallkonstellation und das Gesetz dies zulassen, selbst den Anker zu setzen, an dem sich das Gericht orientieren soll. Dabei kann der Verteidiger natürlich nicht, wie beim Tversky/Kahnemann’schen Glücksrad, ohne Zusammenhang mit dem konkreten Fall Zahlen in den Raum werfen, ohne sich bei den übrigen Prozessbeteiligten lächerlich zu machen. Seine Vorstellungen von dem zu erwartenden Ergebnis sollten also solide begründet werden. In der Hauptverhandlung bieten sich für entsprechende Ausführungen das Opening Statement (hierzu Rn. 233 ff.), im weiteren Verlauf die Begründung von Beweisanträgen, Erklärungen nach § 257 Abs. 2 und Verständigungsgespräche i.S.v. § 257c an. Prinzipiell wäre auch das Plädoyer hierfür geeignet, doch fühlen sich die Gerichte durch den Wortlaut des § 258 und eine darauf fußende lange Tradition genötigt, dem Staatsanwalt zuerst das Wort für die Schlussvorträge zu erteilen, aus psychologischer Sicht ein entscheidender Nachteil für die Verteidigung.[16] Zwingend ist die gesetzliche Regelung nicht,[17] so dass also durchaus ein Antrag auf Änderung der vorgesehenen Reihenfolge gestellt werden kann.[18] In der Berufungshauptverhandlung ist die Reihenfolge der Schlussvorträge in § 326 S. 1 zwar anders geregelt, doch wiegt hier gegen den berufungsführenden Angeklagten der „Anker“ des erstinstanzlichen Urteils in der Regel schwerer. Hier kann aber die gesetzlich nicht zwingend vorgeschriebene Berufungsbegründung (§ 317) helfen (vgl. Rn. 761).
Anmerkungen
Sommer 3. Kap. Rn. 24 nennt die psychische Entlastung, den eigenen moralischen Anspruch oder auch nur den Willen zur Förderung der Wahrheitsfindung als mögliche Geständnismotive, die der Verteidiger zu akzeptieren habe.
Zu den Fällen, in denen selbst bei Einstellungsmöglichkeit im Vorverfahren die Hauptverhandlung angestrebt wird, vgl. Gillmeister Erledigung des Strafverfahrens S. 39.
Schlothauer Hauptverhandlung, Rn. 17.
Zur Einführung sei empfohlen Wilhelm Fehlerquellen bei der Überzeugungsbildung (Eröffnungsvortrag des 38. Strafverteidigertages 2014); ders. Wahrheit im Strafprozess (Vortrag auf dem 40. Strafverteidigertag 2016).
Hierzu gehören: Tversky/Kahnemann Urteile unter Unsicherheit: Heuristiken und kognitive Verzerrungen (im Original erschienen in Science 1974, Bd. 185); Kahnemann/Tversky Entscheidungen, Werte und Frames (Erstveröffentlichung in American Psychologist 34, 1984). Die beiden Arbeiten sind leichter zugänglich im Anhang von Kahnemann Schnelles Denken, langsames Denken (Originaltitel: Thinking, fast and slow), 2011, zu finden.
Festinger A Theory of Cognitive Dissonance, 1962.
Hierzu auch Gerson Recht auf Beschuldigung S. 156 f.; Geipel Kap. 16 Rn. 75; Bender/Nack/Treuer Rn. 158 ff.; Jansen Rn. 368 ff.
Zum Ankereffekt ausführlich auch Schweizer Kognitive Täuschungen vor Gericht, Zürich 2005, im Internet abzurufen unter http://www.decisions.ch/dissertation/diss_ankereffekt.html.
Das bekannteste Experiment zum Nachweis des Ankereffekts stammt von Tversky und Kahnemann, das Kahnemann wie folgt beschreibt: „Amos (Tversky) und ich haben einmal ein Glücksrad manipuliert. Es war mit einer Markierung von 1 bis 100 versehen, aber wir hatten es so konstruiert, dass es nur auf 10 oder auf 65 stehen blieb. Wir rekrutierten Studenten der Universität Oregon als Teilnehmer unseres Experiments. Einer von uns stand vor einer kleinen Gruppe, drehte das Rad und forderte sie auf, die Zahl aufzuschreiben, bei der das Rad stehen blieb, was natürlich entweder bei der 10 oder der 65 der Fall war. Dann stellten wir ihnen zwei Fragen: Ist der Prozentsatz afrikanischer Staaten unter den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen größer oder kleiner als die Zahl, die Sie gerade aufgeschrieben haben? Wie hoch ist Ihrer Einschätzung nach der Prozentsatz afrikanischer Staaten in den Vereinten Nationen? … Die mittleren Schätzwerte derjenigen, die 10 bzw. 65 sahen, beliefen sich auf jeweils 25 bzw. 45 %.“ (Kahnemann Schnelles Denken, langsames Denken, S. 152).
Hiermit hat sich in Deutschland insbesondere Birte Englich befasst, vgl. z.B. Englich S. 309-313.
Englich/Mussweiler/Starck Playing dice with criminal sentences: The influence of irrelevant anchors on experts´ judicial decision making, in: Personalitiy and Social Psychology Bulletin 2006, 32 (2) 188 ff.
Mussweiler/Englich Subliminal anchoring: Judgmental consequences and underlying mechanisms, Organizational Behavior and Human Decision Processes 98 (2005) 133–143, im Internet abrufbar unter: www.hf.uni-koeln.de/data/dppsenglich/File/PDFSStudien/obhdp98.pdf.
Englich/Rost The Reason why the Defense has no Chance: Anchoring – Effect Contra Argument Quality in the Courtroom (2006); mitgeteilt und referiert von Traut/Nickolaus StraFo 2015, 485, 491.
Für eine bestimmte Straftat forderte der Verteidiger 6 Monate, während der Staatsanwalt 3 Jahre beantragte. Plädierte der Staatsanwalt zuerst, kam es zu einer durchschnittlichen Verurteilung von 23,92 Monaten, bei umgekehrter Reihenfolge zu 19,76 Monaten.
Englich S. 312.
Englich/Mussweiler/Starck