10
Damit einher ging eine gewisse Planungsernüchterung[46]. Jedoch war diese Entwicklung auch eine Chance für Raumordnung und Landesplanung, welche nicht mehr der Gefahr ausgesetzt waren, dass überzogene Erwartungen an sie geknüpft wurden, die sie ohnehin nicht erfüllen konnten. Zentrale Entwicklungsplanung hatte weiterhin eine durchaus nicht geringe Bedeutung, wenn auch begrenzt durch die stärkere Betonung der Freiheitsrechte. Somit offenbarten sich zu der Zeit der Planungsernüchterung die klaren Grenzen staatlicher Raumordnungspolitik. Angesichts der Freiheitsrechte scheiden etwa Umsiedlungsgebote in dünn besiedelte ländliche Räume oder Zuzugsverbote in Ballungsgebiete als mögliche Mittel der Raumordnung jedenfalls aus. Das bestehende Wirtschaftssystem, das trotz der so genannten wirtschaftlichen Neutralität des Grundgesetzes[47] wegen der Grundrechte aus Art. 14 und 12, 2 Abs. 1 GG nicht in eine sozialistische Planwirtschaft umgestaltet werden darf[48], lässt keine Festsetzung von Produktionszahlen für Wirtschaftszweige und Regionen und – anders als in einer staatlich und zentral gelenkten Wirtschaft – nur begrenzt staatliche Sonderbestimmungen zu[49].
11
Entscheidend ist zudem, dass die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat sind. Die öffentliche Hand ist vielmehr auch gehalten, im Bereich der darbietenden und vorsorgenden Verwaltung günstige tatsächliche Voraussetzungen für die Verwirklichung der Grundrechte zu schaffen. Zwar begründet dies keinen Rechtsanspruch auf bestimmte staatliche Maßnahmen, aber die Optimierung der Grundrechte muss eine Richtlinie staatlicher Planung sein[50]. Dies gilt insbesondere für das in Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip. Dieses Prinzip, das zu den unabänderlichen Grundentscheidungen der Verfassung zählt, ist als Auftrag, Handlungs- und Auslegungsrichtlinie an Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung gerichtet. Es dient der Herstellung sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit und ist darauf angelegt, einen Zustand zu schaffen, in dem jeder Bevölkerungsgruppe die wirtschaftliche und kulturelle Lebensmöglichkeit auf einem angemessenen Niveau ermöglicht wird[51]. Dazu sind Raumordnung und Landesplanung unverzichtbar, da soziale Ungleichheiten nicht selten im Zusammenhang mit räumlichen Strukturen stehen. Der Auftrag der Raumordnung besteht also auch darin, mittels raumordnungsrechtlichen Maßnahmen die Voraussetzungen für wertgleiche Lebensverhältnisse in allen Teilen der Bundesrepublik zu schaffen[52]. Eine großräumige Ungleichheit der Arbeits- und Lebensbedingungen kann schließlich durchaus Ausmaße annehmen, die für Gesellschaft, Staat und Wirtschaft nachteilige, ja gefährliche Auswirkungen haben kann. Dies gilt insbesondere für den Ausgleich des nach wie vor bestehenden Ost-West-Gefälles in den Lebensbedingungen der Bevölkerung seit der Einheit Deutschlands.
IV. Die Reformphase unter europarechtlichem Einfluss bis heute
12
In den Folgejahren kam es zu einer Stärkung des ökologischen Bewusstseins in der Bevölkerung, was sich auch in der zunehmenden Intensivierung nationaler und europäischer Umweltpolitik ausdrückte. Ein wichtiges Anwendungsfeld des Umweltschutzes lag und liegt dabei noch immer im Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, insbesondere im Rahmen der noch zu behandelnden Raumordnungsverfahren[53]. Die Folge dieser Entwicklung waren europaweite Diskussionen und Novellierungen im Raumordnungs- und Raumplanungsrecht (vgl. dazu unten Rn. 74).
Für die Abwägung von Umweltbelangen war zunächst die EG-Richtlinie über die Umweltverträglichkeit bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten[54] von Bedeutung. In diesem Zusammenhang war lange umstritten, ob und inwieweit das bundesdeutsche Raumordnungsrecht den Vorgaben dieser Richtlinie genügte[55]. Seit 1990 sind diese Fragen durch das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG)[56] geklärt. So konnten gemäß § 16 UVPG die Schutzgüter des § 2 Abs. 1 S. 2 UVPG in einem Raumordnungsverfahren im Rahmen der behördlichen Prüfung der Raumverträglichkeit bestimmter Maßnahmen und Planungen als frühzeitiges Mittel überörtlich-raumbezogener Prägung ermittelt, beschrieben und auch bewertet werden. Durch diese gesetzlichen Einführungen und Änderungen ist die EG-Richtlinie zur Umweltverträglichkeit in nationales Recht umgesetzt worden. Eine umweltfreundliche Veränderung erfuhr das UVPG schließlich im Rahmen der Umsetzung der UVP-Änderungsrichtlinie[57].
13
Während dieser Zeit wurde das Raumordnungsgesetz gleich dreifach erneuert – im Januar 1998 im Dezember 2008[58] und im Mai 2017[59]. Durch die erste Reform 1998 wurde das zuvor nur auf Länderebene eingeführte Raumordnungsverfahren im Bundesrecht verankert[60] und derart verändert, dass mit einem bundeseinheitlichen Verfahren geprüft werden konnte, ob ein bestimmtes Vorhaben den Erfordernissen der Raumordnung[61] entspricht. Daneben wurden die Grundsätze der Raumordnung und Landesplanung neu formuliert und harmonisiert, sowie die Vorschriften über Ziele, Aufgaben und Grundsätze der Raumordnung aktualisiert. Es ist außerdem eine einheitliche Leitvorstellung geschaffen worden, die in ihrer räumlichen Dimension in acht Teilaspekten verdeutlicht wird[62]. Neu eingefügt wurde als Leitvorstellung in § 1 II Nr. 8 ROG a.F.[63] z.B. die Schaffung der räumlichen Voraussetzung für den Zusammenhalt in der Europäischen Gemeinschaft und im größeren europäischen Raum. Hier wird bereits erkennbar, wie sehr die europäische Diskussion über die Raumnutzung die Raumordnungspolitik der Mitgliedstaaten beeinflusste.
14
Die praktischen Erfahrungen mit dem ROG-1998 wurden schließlich bei der zweiten Novellierung im Jahre 2008 herangezogen. Teils war auch diese Novellierung durch Vorgaben gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien bedingt.[64] Obwohl die Europäische Gemeinschaft (nunmehr die Europäische Union) keine ausdrückliche und umfassende Kompetenz für Raum- und Stadtentwicklungsregelungen im Allgemeinen besaß, wird hier deutlich, wie sehr sie durch ihre einzelnen Fachkompetenzen erheblichen Einfluss auf die Raum- und Städteentwicklung ausgeübt hat[65] – so z.B. bei der Umweltpolitik im Rahmen des Art. 192 Abs. 2 AEUV oder bei dem Ausbau transeuropäischer Netze gem. Art. 170 f. AEUV[66]. Die Erkenntnis, dass mit zunehmenden Kompetenzbereichen eine gewisse Koordinierung der verschiedenen EG-Fachpolitiken im Hinblick auf die Raumentwicklung der Mitgliedstaaten notwendig geworden war, brachte schließlich erneut Schwung in die Diskussion um die europäische Raumentwicklung (vgl. dazu unten Rn. 74).
15
Eine weitere Novelle erfolgte im Jahr 2017, mit der eine behutsame Erweiterung der Zuständigkeiten des Bundes für eine bundesweite Raumordnungsplanung erfolgte. Darin wurde u.a. verankert, dass diese auch den Hochwasserschutz umfasst.
16
In der Zeit zwischen der ersten und der zweiten sowie der dritten Novellierung stiegen die Anforderungen an eine wirksame Raumordnungspolitik, die Wachstum und gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Teilräumen sichern und fördern soll, durch die voranschreitende globale, ökonomische Verflechtung und den demografischen Wandel, weiter an[67]. Gleichzeitig entwickelte sich das Planungsverständnis dergestalt, dass die zuständigen Akteure der Raumordnung verstärkt auf Flexibilität und Kooperation setzten. Daher wurden insbesondere Regelungen, welche die Zusammenarbeit der verschiedenen Raumordnungsakteure betreffen, verändert, so z.B. die Grundsätze der Raumordnung in § 2, die Regelung über die raumordnerische Zusammenarbeit der Träger raumbedeutsamer Planung in § 14 und § 24 ROG[68]. Diese Entwicklung des Planungsverständnisses wurde auch durch die gestiegene Komplexität der Materie auf Grund der veränderten verfassungsrechtlichen Grundlagen und der europäischen Raumentwicklungsdiskussion, auf die noch näher einzugehen sein wird, befördert: Durch die Föderalismusreform 2006 ist die Rahmengesetzgebungskompetenz weggefallen und die Abweichungskompetenz der Länder u.a. für die Raumordnung eingeführt worden, wobei die rahmengesetzlichen Regelungen des ROG 1998 zunächst gem. Art. 125b