f) Stimmenthaltungen
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Soweit sich das Mitglied des Kollegialorgans der Stimme enthält, kann ihm der Erfolg nicht zugerechnet werden, obwohl eine Stimmenthaltung de facto wie eine Zustimmung wirkt. Haftungsbegründend ist abermals nicht die Abstimmungsteilnahme sowie die dadurch herbeigeführte Beschlussfähigkeit des Gremiums, sondern das konkrete Abstimmungsverhalten.[50]
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Teilweise wird jedoch Kausalität angenommen, wenn der Beschluss durch Ablehnung der Beschlussvorlage hätte abgewendet werden können.[51] Dies läuft wenig überzeugend darauf hinaus, die Stimmenthaltung als ein Unterlassen aufzufassen, was eine den realen Gegebenheiten widersprechende Umdeutung des Geschehens darstellt. In diesem Sinne hatte der BGH in BGH JZ 2006, 560, 564 die Kausalität einer Stimmenthaltung für den Erfolg bejaht und darauf gestützt, dass sie objektiv und subjektiv einer Zustimmung gleichgestanden habe; das sich der Stimme enthaltende Mitglied habe durch die Teilnahme an der Abstimmung überhaupt erst die Beschlussfähigkeit des Kollegialorgans und die Wirksamkeit der Beschlüsse begründet:
[BGH JZ 2006, 560, 564]
„(...) nach den Feststellungen wusste der Angeklagte Z bei seinen Stimmabgaben, dass sich F und A bereits auf die Zuerkennung der Anerkennungsprämien verständigt hatten und dass die Beschlüsse – unabhängig von seinem eigenen Abstimmungsverhalten – mit seiner Teilnahme an den Beschlussfassungen wirksam würden. Ebendies wollte er auch erreichen, weil er mit deren Inhalt nach den Urteilsfeststellungen einverstanden war. Damit hat er durch seine Stimmenthaltungen vorsätzlich die Wirksamkeit der Beschlüsse herbeigeführt, so dass ihm das Landgericht die Mehrheitsentscheidungen des Präsidiums zu Recht als Mittäter zugerechnet hat. (...) Entgegen der Meinung der Verteidigung kann sich Z nicht mit Erfolg darauf berufen, die Beschlüsse wären mit demselben Ergebnis zustande gekommen, wenn er mit ʼNeinʼ gestimmt hätte; denn dieser Einwand lässt den den Sachverhalt prägenden, für die rechtliche Einordnung wesentlichen Umstand unberücksichtigt: Die Stimmenthaltung des Z entsprach hier objektiv und subjektiv im Ergebnis einer ʼJa-Stimmeʼ (...)“.[52]
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Sofern diese Ausführungen nicht in der Weise zu interpretieren sind, dass der BGH an sich auf ein außerhalb der Abstimmung liegendes Verhalten des sich Enthaltenden abstellt,[53] wird hier die bloße Gesinnung zum maßgeblichen Kriterium in der Entscheidung über die Frage der Strafbarkeit.[54] Letztlich stellt die Begründung eine dem Konzept von individueller Schuld und Vorwerfbarkeit zuwiderlaufende Kollektivzurechnung dar. Insbesondere scheidet § 25 Abs. 2 StGB als Grundlage der Zurechnung aus, da es an einem gemeinsamen Tatplan und einer gemeinsamen Tatausführung fehlt. Im Falle einer Stimmenthaltung kann nicht von einem gemeinsamen Tatplan zwischen dem sich Enthaltenden und den übrigen Mitgliedern des Kollegialorgans ausgegangen werden. Denn er identifiziert sich nicht mit der durch den gemeinsamen Tatplan und der gemeinsamen Tatausführung begründeten Gesamttat. Im Gegenteil: Die Stimmenthaltung macht deutlich, dass er den Beschluss nicht mitträgt.[55]
g) Objektive Zurechnung
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Selbst die Abgabe eines Positivvotums und die damit einhergehende Beteiligung an einer rechtswidrigen Entscheidung muss nicht zwingend zu einer Haftung führen, da insoweit die Abgrenzung nach Verantwortungsbereichen einer Zurechnung des Erfolges auf das Individuum entgegenstehen kann. Insoweit ist davon auszugehen, dass jedes Mitglied eines Kollegialorgans erst einmal auf den fehlerfreien – insbesondere rechtmäßigen – Inhalt einer Beschlussvorlage vertrauen darf, was erst recht gilt, wenn nicht das eigene Ressort betroffen ist.[56] Der am Ende herbeigeführte Erfolg basiert hier weniger auf dem Positivvotum, als auf der inhaltlich rechtswidrigen Beschlussvorlage. Dementsprechend hat der BGH klargestellt, dass der Vorsitzende eines Kreditausschusses auf die inhaltliche Richtigkeit eines Berichts durch den für dessen Erstellung Zuständigen vertrauen dürfe.[57] Das an diesem Punkt zum Ausdruck kommende Ressortprinzip lässt sich letztlich auf den Vertrauensgrundsatz zurückführen, dem gerade in Unternehmenszusammenhängen eine herausgehobene Bedeutung zukommt (siehe hierzu Rn. 212 ff.). Allerdings unterliegen sowohl die Reichweite des Vertrauensgrundsatzes als auch die des Ressortprinzips Grenzen: Eine Berufung auf den Vertrauensgrundsatz scheidet insbesondere aus, wenn konkrete Anzeichen für eine rechtswidrige Beschlussvorlage bestehen,[58] das Ressortprinzip gilt nicht in Ausnahme- und Krisensituationen (siehe Rn. 21 ff.). Am Ende bleibt daher möglicherweise nur – aber immerhin – eine subjektive Verteidigung.
2. Unterlassen
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Für Personen aus der Leitungsebene eines Unternehmens können sich Risiken einer horizontalen straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlichen Haftung ferner unter dem Gesichtspunkt eines Unterlassens ergeben. Es kommt darauf an, ob und inwieweit sie verpflichtet sind, rechtlich relevante Erfolge abzuwenden. Nur bei Bestehen einer Garantenpflicht kann ihnen ein aus dem Unternehmenswirken resultierender Erfolg zugerechnet werden. Für die Zurechnung gilt eine abgewandelte condicio sine qua non-Formel, nach der kausal jede Bedingung ist, die nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tatbestandsmäßige Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele (sog. Quasi-Kausalität).[59]
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Die Relativierung der dem Konzept von Schuld und Vorwerfbarkeit an sich gemäßen individuellen Zurechnung nahm ihren Ausgang gerade bei der Unterlassungshaftung, anhand derer in BGHSt 37, 106 ff. der Grundsatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit statuiert wurde (siehe Rn. 21 ff.). Allerdings hat der BGH zugleich eine innerhalb von Leitungsorganen vorgenommene Aufgabenteilung nach konkreten Verantwortungsbereichen im Sinne eines Ressortprinzips anerkannt,[60] die aus Verteidigungssicht bedeutsam werden kann. Denn den auf die Gesellschaft als Ganzes bezogenen Pflichten wird auch auf horizontaler Ebene durch Arbeitsteilung begegnet, indem abgegrenzte Verantwortungsbereiche geschaffen werden, für die die jeweiligen Mitglieder des Leitungsorgans primär verantwortlich und zuständig sind; der Haftungsbereich der ressortunzuständigen Mitglieder endet an diesem Punkt, da sie darauf vertrauen dürfen, dass der Ressortzuständige die auf das Ressort bezogenen Pflichten erfüllt, worin eine Ausprägung des allgemeinen Vertrauensgrundsatzes liegt.[61]
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Allerdings suspendiert das Ressortprinzip die sich aus dem Grundsatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit ergebenden Handlungspflichten nicht vollständig, sondern beschränkt sie allenfalls.[62] Dies bedeutet insbesondere, dass die den einzelnen Mitgliedern des Leitungsorgans obliegenden Pflichten in Überwachungs- und Kontrollpflichten umgeformt werden.[63] Indes folgt hieraus keine Pflicht zu einer fortwährenden Totalkontrolle der anderen Mitglieder des Leitungsorgans,[64] da dies nicht nur faktisch unmöglich, sondern auch wirtschaftlich dysfunktional wäre.
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Eine zentrale Aufgabe der Verteidigung besteht darin, die Grenze derartiger Pflichten aufzuzeigen, zumal der Grundsatz der Generalverantwortung und Allzuständigkeit selbst nach dem BGH nur aufgerufen werden kann, wenn das Unternehmen als Ganzes betroffen ist.[65] Dies mag anzunehmen sein, wenn ressortüberschreitende Probleme auftauchen oder die Erfüllung zentraler öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen auf dem Spiel steht (Bsp.: Abführen von Steuern oder Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung).[66] Sofern im Falle der Gesamtgeschäftsführung entsprechende Maßnahmen nur durch alle Leitungspersonen gemeinsam getroffen werden können, ist diese Verpflichtung jedoch bereits aus Rechtsgründen begrenzt.[67] Sie erfährt eine inhaltliche Umgestaltung in der Weise, dass jeder nur das ihm Mögliche und Zumutbare tun muss, um die Erfüllung der Pflicht insgesamt zu sichern.[68]
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