§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 2. Verfassungsprinzipien
a) Zur Bedeutung von Art. 20 Abs. 1–3 GG
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In Art. 20 Abs. 1–3 GG sind mit der Garantie von Republik, Demokratie, Sozialstaat, Bundesstaat und Rechtsstaat wesentliche und fundamentale Aussagen über die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland getroffen. In Verbindung mit den Garantien des Art. 1 GG handelt es sich um das „normative Kernstück der Verfassungsordnung“[333]. Die zentrale Bedeutung des Art. 20 GG hat noch den weiteren Grund, dass die „Grundsätze“ dieser Norm gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich und damit einer Verfassungsänderung entzogen sind. Insofern kommt den Festlegungen in Art. 20 Abs. 1–3 GG durchaus höherer Rang zu als anderen Normen des Grundgesetzes.
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Die Terminologie, mit der die genannten Garantien umschrieben werden, zeichnet sich durch große Vielfalt aus.[334] Man spricht von Staatsform, Staatszielen, Staatsstrukturbestimmungen, verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen und anderem mehr. Vorzugswürdig erscheint die Bezeichnung als Verfassungsprinzipien, weil dadurch der dynamische Charakter und das Unabgeschlossene, auf permanente Konkretisierung und dynamische Weiterentwicklung hin Angelegte deutlich erfasst wird.
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Wichtiger als die Terminologie ist freilich die Einsicht, dass die einzelnen Elemente erhebliche Differenzen in ihrem Konkretionsgrad und in ihrer normativen Prägekraft aufweisen. So sind Republik, Sozialstaat und Bundesstaat in Art. 20 GG nur in lapidarer Kürze (als Namensbestandteil, adjektivisch bzw. substantivisch) aufgeführt, während Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip bereits in der Norm selbst substantielle Festlegungen erfahren und weitere Konkretisierungen durch andere Verfassungsnormen hinzutreten. Im Folgenden seien lediglich Demokratie und Rechtsstaat etwas näher erläutert (vgl. Rn. 104ff., 116ff.), während die anderen Bausteine nur mit wenigen und unzureichenden Stichworten bedacht werden können (vgl. Rn. 96ff.).
b) Republik und Sozialstaat
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Mit der Festlegung auf die Republik ist eine Rückkehr zur Monarchie (gleich ob Wahl- oder Erbmonarchie, konstitutionell oder absolut) ebenso ausgeschlossen wie jede andere Bestellung des Staatsoberhauptes auf Lebenszeit. In letzter Zeit zunehmend zu registrierende Versuche, die Republik über diese formale Staatsformbestimmung hinaus mit materiellen Gehalten wie etwa der Garantie des Gemeinwohls oder dem Gedanken der Ämterordnung aufzuladen,[335] sind verfehlt.[336]
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Der Sozialstaat ist die Antwort des 20. auf die „soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts. Da er im Grundgesetz weder durch soziale Grundrechte noch durch präzisierende Normen zur Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung flankiert wird, sieht er sich weitestgehend auf nähere Ausgestaltung durch den Gesetzgeber verwiesen.[337] Lediglich einige Grundelemente und Leitlinien[338] wie die Unterstützung sozial Schwacher (Solidarität) sowie der Gedanke der Vor- und Fürsorge lassen sich dem Prinzip als solchem entnehmen, denen allerdings in vielfältiger Weise Rechnung getragen werden kann. Eine streng liberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ist damit nicht automatisch ausgeschlossen. Auch gibt es keinen Bestandsschutz für einzelne Leistungen oder ganze Versorgungssysteme nach Art eines sozialen „Rückschrittsverbots“. Lediglich die Garantie eines (seiner Höhe nach wiederum von der ökonomischen Gesamtlage abhängigen) Existenzminimums ist verfassungsrechtlich verbürgt und wird aus dem Sozialstaatsprinzip i.V.m. der Menschenwürdegarantie abgeleitet.[339] Die relativ geringe normative Steuerungskraft des Sozialstaatsprinzips darf allerdings nicht den Blick für den gewaltigen finanziellen Umfang und die Vielfalt der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und Gestaltungsaufgaben trüben.[340]
c) Bundesstaat
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Die föderale Gliederung Deutschlands blickt auf eine lange Tradition zurück (vgl. oben, Rn. 22). Ihre Bedeutung für das Verfassungsleben der Bundesrepublik Deutschland kann kaum überschätzt werden.[341] Das Charakteristische des Bundesstaates besteht darin, dass die im Grundgesetz als „Länder“ bezeichneten Gliedstaaten nach ganz herrschender Doktrin ihrerseits Staatsqualität aufweisen.[342] Daraus leitet sich etwa ihre Verfassungsautonomie ab.[343] Von der Möglichkeit zu eigener Verfassunggebung sowie der Etablierung einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit können die Länder allerdings nur im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG („Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“) Gebrauch machen.[344] Diese als Homogenitätsklausel bezeichnete Vorschrift zeigt die Grenzen der Eigenstaatlichkeit der Länder auf, die zudem weder Völkerrechtssubjekte sind noch über ein Sezessionsrecht verfügen; auch gibt es für sie, wie Art. 29 GG (Zulässigkeit der Neugliederung des Bundesgebietes) demonstriert, keine Bestandsgarantie.[345]
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Neben der Anerkennung landsmannschaftlicher Verschiedenartigkeiten und gewachsener Bindungen besteht der wesentliche verfassungsrechtliche Effekt föderaler Gliederung in der Vervielfältigung von Entscheidungs- und Machtzentren und der damit verbundenen Dezentralisation. Plastisch spricht man insofern von „vertikaler Gewaltenteilung“[346]. Die Vielfalt bewirkt wechselseitige Kontrolle, aber auch Konkurrenz und Wettbewerb und bietet so eine gewisse Grundlage für die Vorstellung eines „kompetitiven“ Föderalismus, wenngleich die entsprechende Programmatik noch recht unscharf zu sein und ein elaboriertes Konzept noch nicht vorzuliegen scheint.[347]
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Entscheidend für das politische Gewicht der Länder sind die ihnen zustehenden Kompetenzen. Unentziehbar steht ihnen gemäß Art. 79 Abs. 3 GG zunächst einmal die „grundsätzliche Mitwirkung“ bei der Gesetzgebung des Bundes zu. Wichtiger noch dürfte sein, dass den Ländern ein „Kern eigener Aufgaben als ‚Hausgut‘ unentziehbar“ verbleiben muss.[348] Nach derzeitiger verfassungsrechtlicher Normlage gilt ein alle staatlichen Aufgaben erfassendes Regel-Ausnahme-Verhältnis, wonach eine Vermutung für die Länderzuständigkeit streitet, die Bundeszuständigkeit hingegen jeweils einer besonderen Regelung im Grundgesetz bedarf (vgl. Art. 30, 70, 83 GG). In der Verfassungswirklichkeit nehmen sich die Dinge freilich anders aus: der Bund dominiert aufgrund beständiger Erweiterung und extensiver Nutzung der Gesetzgebungskompetenzen auf der legislativen Ebene, während die Ausführung der Bundesgesetze ganz überwiegend den Ländern anvertraut ist. Deren Dominanz auf der Verwaltungsebene führt zur verbreiteten Charakterisierung des bundesrepublikanischen Modells als eines „Exekutivföderalismus“[349].
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Als Erscheinungsform dieses Exekutivföderalismus kann auch der seit den 1960er