Bestraft[50] werden kann eine Tat nach § 1 StGB, Art. 103 Abs. 2 GG freilich nur auf Grundlage eines Gesetzes, d.h. einer geschriebenen Rechtsnorm (Rn. 238). Doch auch im Übrigen ist die Bedeutung des Gewohnheitsrechts im deutschen Recht heute praktisch sehr gering.[51] Zunächst entstandenes Gewohnheitsrecht (z.B. Züchtigungsrecht des Schullehrers) tritt später wieder außer Kraft, wenn zumindest eine der beiden vorgenannten Voraussetzungen wegfällt oder aber entgegenstehendes Gewohnheits- oder Gesetzesrecht sich bildet bzw. erlassen wird (vgl. Rn. 71; z.B. Art. 86 Abs. 3 Nr. 1 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen: „Unzulässig sind: körperliche Züchtigung“).[52]
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Mangels Allgemeinverbindlichkeit jeweils nicht um eine Rechtsquelle (im engen juristischen Sinn[53]) handelt es sich dagegen bei den folgenden Einzelfallregelungen:[54]
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• | Gerichtsentscheidungen (v.a. Urteile), vgl. § 121 VwGO, § 325 Abs. 1 ZPO.[55] Denn der Richter „erzeugt kein Recht, sondern [er] wendet Recht an“,[56] vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG (Gewaltenteilungsgrundsatz) und Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG (Gesetzesbindung). Abweichendes gilt nach § 31 Abs. 2 S. 1, 2 BVerfGG nur für die dort genannten Entscheidungen des BVerfG, die Gesetzeskraft haben, sowie im Umfang des § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO für Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe (§ 184 VwGO; Rn. 54 f.); ferner siehe auf EU-Ebene Art. 264 Abs. 1 und Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV.[57] Zur richterlichen Rechtsfortbildung im Bereich planwidriger Gesetzeslücken namentlich mittels Analogie („Richterrecht“[58]) siehe Rn. 226 ff. sowie zu weiteren Funktionen der Rechtsprechung in methodischer Hinsicht Rn. 124; |
Hinweis
Höchstrichterlichen Entscheidungen (des Bundesgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts etc.) kommt freilich auch im deutschen Recht nicht nur tatsächlich ein hoher Stellenwert zu (Rn. 135 a.E.), sondern entfalten diese im Verhältnis zu untergeordneten Gerichten (z.B. § 121 Abs. 2 GVG, § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), Staatsanwälten (vgl. § 152 Abs. 2 StPO; str.) und Rechtsanwälten (vgl. § 276 Abs. 2 BGB) ebenfalls rechtlich (mittelbar) eine Bindungswirkung.[59]
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• | Verwaltungsentscheidungen (Verwaltungsakte, vgl. § 35 S. 1 VwVfG) und Verwaltungsvorschriften (z.B. Einkommensteuerrichtlinien, vgl. Art. 108 Abs. 7 GG; allgemein siehe Art. 84 Abs. 2, Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG), „durch die eine vorgesetzte Behörde verwaltungsintern auf ein einheitliches Verfahren oder eine bestimmte Ermessensausübung, aber auch auf eine bestimmte Gesetzesauslegung und -anwendung durch die ihr nachgeordneten Behörden hinwirkt.“[60] Ihnen kommt regelmäßig keine unmittelbare Außenwirkung gegenüber dem Bürger und damit keine Rechtsnormqualität zu.[61] Ob eine Regelung als Rechts- oder aber als Verwaltungsvorschrift zu qualifizieren ist, beurteilt sich dem VGH München zufolge „zum einen nach ihrer Form [Bezeichnung, Publikationsort], zum anderen nach ihrem Inhalt [Adressatenkreis]“[62]; |
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• | Verträge, vgl. § 241 Abs. 1 BGB;[63] |
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• | aufgrund fehlender Rechtsverbindlichkeit die im rechtswissenschaftlichen Schrifttum vertretenen Lehrmeinungen (inkl. der „h.M.“, Rn. 135), das sog. „Juristenrecht“.[64] |
Anmerkungen
Vogel, Methodik, S. 36 (Hervorhebung d. d. Verf.). Allein aus Tatsachen können sich ohne eine Rechtsnorm, die an diese anknüpft, keine Rechtsfolgen ergeben, siehe Schmalz, Methodenlehre, Rn. 9, 11.
Schmalz, Methodenlehre, Rn. 41. Dort (Rn. 63 ff.) auch zum Merkmal „Geltung“, das dann zu bejahen ist, wenn „bestimmte Wirksamkeitsvoraussetzungen erfüllt werden (z.B. Inkrafttreten) und keine […] Unwirksamkeitsgründe [Rn. 50 ff.] vorliegen.“ Zu den Voraussetzungen für die Existenz (i.S.v. Entstehung) einer Rechtsnorm als „Vorfrage“ ihrer Geltung siehe Muthorst, Grundlagen, § 5 Rn. 54. Nachweise zu weiteren Versuchen einer Definition des Begriffs „Recht“ bei Adomeit/Hähnchen, Rechtstheorie, Rn. 5; Krüger, JuS 2012, S. 873 (875); Lindner, Jura 2016, S. 8 (13); Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 17 m.w.N., die Normen als „Elementarteilchen des Rechts“ bezeichnen (S. 189).
Muthorst, Grundlagen, § 2 Rn. 2.
„Die Sprachbeherrschung des Juristen ist [denn auch] die Obergrenze seiner möglichen Fachkompetenz“, Rüthers, JuS 2011, S. 865 (870). Zu non-verbalen Bildern (z.B. Vorschriftzeichen im Sinne von § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Anlage 2) und Zeichen (z.B. von Polizeibeamten nach § 36 Abs. 2 StVO) siehe Börner, Jura 2014, S. 1258. Zu mathematischen Formeln (z.B. § 32a Abs. 1 EStG) siehe Piekenbrock, Jura 2015, S. 336 und zum Gewohnheitsrecht (Rn. 18) siehe Muthorst, JA 2013, S. 721 (723).
Staake, Jura 2018, S. 661 (662) m.w.N.
Vgl. Adomeit/Hähnchen, Rechtstheorie, Rn. 19, 26 f.; Börner, Jura 2014, S. 1258; Muthorst, Grundlagen, § 2 Rn. 3, § 5 Rn. 1, 9; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 190; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 92, 94 f., 103 f.; 113, 124, 219; Schwacke, Methodik, S. 3 f.; Staake, Jura 2018, S. 661 (662); Zippelius, Methodenlehre, S. 2 unter Hinweis auf Kant. Mitunter werden Sollens-Sätze („Du sollst nicht morden“) im Gesetz nicht