Nach RG, DStrZ 1916, S. 77; Wank, Auslegung, S. 45. Siehe auch den Übungsfall in Rn. 283 f.
2. Teil Handhabung des Gesetzes
2. Teil Handhabung des Gesetzes
Inhaltsverzeichnis
2. Teil Handhabung des Gesetzes › A. Struktur von Rechtsnormen
A. Struktur von Rechtsnormen
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Der sich aus einer Rechtsnorm typischerweise ergebende Verhaltensbefehl (Imperativ[1], z.B. eine Verhaltens- bzw. Unterlassungspflicht[2] in Gestalt eines Ge- bzw. Verbots als Grundformen des „Sollens“ [Rn. 6]) für den Bürger und Entscheidungsmaßstab für Behörden und Gerichte gilt i.d.R.[3] nicht ohne Weiteres, sondern nur bedingt (konditional); d.h. er ist an das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen geknüpft, sog. „Regel“[4] i.S.e. „Wenn-Dann“-Schemas (z.B. hat die zuständige Behörde die Rechtsfolge „Untersagung der Gewerbeausübung“ gem. § 35 Abs. 1 GewO nur dann auszusprechen, wenn die in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen erfüllt sind):[5] „,Wenn der Tatbestand (T) erfüllt ist, dann soll die Rechtsfolge (R) eingreifen‚ – oder kürzer: ,T→R‘.“[6]
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Die Summe der abstrakt-generellen Voraussetzungen, unter denen die in einer Vorschrift enthaltene Rechtsfolge eintritt, nennt man „Tatbestand“ („Rechtsfolgenvoraussetzungen“[7]), jede einzelne dieser Voraussetzungen „Tatbestandsmerkmal“.[8]
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„Rechtsfolge“ einer Vorschrift ist die in dieser abstrakt-generell umschriebene rechtliche Konsequenz („was […] geschehen soll oder sein soll“[9]), die eintritt, wenn der Tatbestand der Rechtsnorm verwirklicht ist.[10]
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2. Teil Handhabung des Gesetzes › A. Struktur von Rechtsnormen › I. Tatbestand
I. Tatbestand
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Da nach diesem sog. „Konditionalprogramm“[11] die in der betreffenden Vorschrift abstrakt-generell angeordnete Rechtsfolge im konkreten Fall immer und nur dann eintritt, wenn in diesem sämtliche normativen Voraussetzungen hierfür vorliegen, ist die Tatbestandsseite eines Rechtssatzes vor dessen Rechtsfolgenseite zu prüfen.[12] Diese Prüfung wiederum beginnt mit der Aufbereitung des Tatbestands der jeweiligen Rechtsnorm, d.h. diese muss in ihre einzelnen (Tatbestands-)Merkmale zerlegt und müssen diese sodann in eine zweckmäßige Reihenfolge gebracht werden (z.B. objektive Merkmale i.d.R. vor subjektive Merkmale, vgl. Rn. 88).[13]
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Hinweis
Von den hier behandelten sog. Klassenbegriffen (z.B. „Verwaltungsakt“), die jeweils durch eine feststehende Anzahl von Eigenschaften definiert sind (siehe z.B. § 35 S. 1 VwVfG[14]), werden nach umstrittener Auffassung die sog. Typusbegriffe unterschieden (z.B. „Arbeitnehmer“).[15] Während bei Ersteren das Nichtvorliegen auch nur eines Merkmals zwingend dazu führt, dass der konkrete Sachverhalt nicht unter den betreffenden Begriff subsumiert werden kann („Entweder-Oder“[16]), soll es bei Letzteren gerade nicht darauf ankommen, ob die zur Kennzeichnung des jeweiligen Typus herausgearbeiteten Merkmale „1:1“ erfüllt sind.[17] Vielmehr bilden diese ein „elastisches Merkmalsgefüge“[18] i.d.S., als dass der betreffende Typusbegriff auch dann noch erfüllt sein kann, wenn einzelne seiner Elemente im konkreten Fall zwar nur in abgewandelter Form oder gar überhaupt nicht vorhanden sind, andere hingegen in entsprechend stärkerer Ausprägung vorliegen („Merkmalsflexibilität“[19]). Maßgeblich ist letztlich eine wertende Gesamtbetrachtung („Merkmalsgefüge“ anstatt einer „bloße[n] Summe von Merkmalen“[20]).[21] Im Ergebnis führt dies dazu, dass außerhalb der eindeutigen Schwerpunkte eines Typus dessen Ränder nach Art der Fuzzy-Logik[22] unscharf konturiert sind („Mehr-oder-Weniger“[23]).[24] Um zu entscheiden, wo jeweils die Grenze liegt, bis zu der eine Zuordnung zum betreffenden Typus noch möglich ist, wird die der Fallvergleichung (Rn. 123) ähnliche Bildung von Typenreihen vorgeschlagen.[25]
Zusammenfassend hat das BVerfG hierzu erkannt: „Zur Feststellung der Merkmale, die den betreffenden Typus kennzeichnen, ist auf den jeweiligen Normal- oder Durchschnittsfall abzustellen; Merkmale, die sich als bloße Einzelfallerscheinungen darstellen, sind bei der Typusbildung auszuscheiden. Es ist zudem nicht erforderlich, dass stets sämtliche den Typus kennzeichnende Merkmale vorliegen. Diese können vielmehr in unterschiedlichem Maße und verschiedener Intensität gegeben sein; je für sich genommen haben sie nur die Bedeutung von Anzeichen oder Indizien. Maßgeblich ist das durch eine wertende Betrachtung gewonnene Gesamtbild.“[26]
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Abhängig von der Formulierung der jeweiligen Rechtsnorm kann die Aufbereitung ihres Tatbestands mit mehr oder weniger großen Schwierigkeiten verbunden sein. Während sich etwa § 105 Abs. 1 BGB („Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig“) insoweit als unproblematisch erweist (Tatbestand: „Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen“; Rechtsfolge: „nichtig“) und in Bezug beispielsweise auf § 104 Nr. 1 BGB, an dessen Anfang die Rechtsfolge steht („geschäftsunfähig ist“) und erst im Anschluss daran die tatbestandlichen Voraussetzungen genannt werden („wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat“), eine schlichte Umstellung genügt, erfordern andere Vorschriften eine Umformulierung, um die „Wenn-Dann“-Struktur sichtbar zu machen (z.B. § 985: „Der Eigentümer kann von dem Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen“ → Tatbestand: „Wenn jemand Eigentümer einer Sache und ein anderer deren Besitzer ist“; Rechtsfolge: „Dann kann der Eigentümer vom Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen“).[27] Ebenso ist vorzugehen, sofern Rechtssätze indikativisch formuliert sind (z.B. § 211 Abs. 1 StGB: „Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft“). Denn weil der Gesetzgeber auch mit derartigen Vorschriften nicht etwa eine tatsächliche Situation lediglich beschreiben will (was im Beispiel denn wohl auch unzutreffend wäre, wird doch nicht jeder Mord aufgeklärt und der Täter