171
Zu Beginn des industriellen Zeitalters im 18. Jahrhundert verfolgte zunächst nur Großbritannien eine liberale Außenwirtschaftspolitik, die den Zielen des Freihandels verpflichtet war. Zur Absicherung dieser Politik wurden auch völkerrechtliche Verträge eingesetzt, die mit den Grundsätzen der Inländerbehandlung und des Meistbegünstigungsprinzips auch erste Prinzipien enthielten, die bis heute zu den Kernvorschriften des Wirtschaftsvölkerrechts gehören.[1] In Kontinentaleuropa herrschte dagegen noch eine Schutzzollpolitik vor, die wesentlich zur Industrialisierung beitrug.[2] Erst in der Spätphase der Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich das liberale Leitbild der Handelsfreiheit bzw. des Freihandels in den Staaten Westeuropas und Nordamerikas durch. In diese Zeit fällt auch die Gründung des Deutschen Zollvereins, als einer ersten echten Zollunion im Jahr 1865.
172
Mit der Ausdehnung kolonialer Einflussgebiete, der politischen Unterwerfung der Kolonien und der systematischen Ausbeutung ihrer Rohstoffe (Imperialismus) wuchs gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Umfang des weltweiten Handels. Die Herausbildung großer Kartelle und Monopole, die auch transnational agierten, führte in der Phase des Hochkapitalismus ebenfalls zu einer erheblichen globalen wirtschaftlichen Integration. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kann man daher von einer sich herausbildenden Weltwirtschaft im heutigen Sinne sprechen.
173
Der 1. Weltkrieg führte zu einem Zusammenbruch der weltweiten Wirtschaftsbeziehungen. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen wandten sich die meisten Staaten einer protektionistischen Wirtschaftspolitik zu. Dadurch ging auch der Umfang des internationalen Handels zurück. Inflation und Währungskrisen prägten die 1920er Jahre, eine Entwicklung, die im Börsencrash von 1929 gipfelte, der eine Weltwirtschaftskrise auslöste. Mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er eng verbunden ist das Erstarken des Faschismus in Europa, wenn man darin auch nicht dessen Hauptursache sehen kann. Insbesondere die NS-Diktatur und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs machten der Weltgemeinschaft jedoch die Notwendigkeit einer Neuorientierung des internationalen Wirtschaftssystems nach Kriegsende deutlich.
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Die Neuorientierung des internationalen Handels-, Währungs- und Finanzsystems ist ideengeschichtlich und tatsächlich in einem Kontext mit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 zu sehen. Bereits 1944 wurden auf der Konferenz von Bretton Woods der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank gegründet.[3] Im Rahmen des Wirtschafts- und Sozialrats der UNO fanden ab 1946 Verhandlungen über eine Internationale Handelsorganisation (International Trade Organisation, ITO) statt, deren Rechtsordnung – neben IWF und Weltbank – die dritte Säule der Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit werden sollte.
Anmerkungen
Dazu unten Rn. 312 ff., 320 ff.
Dazu oben Rn. 152.
Dazu Teil 5 Rn. 780 ff.
Teil 2 Welthandelsrecht › III. Entwicklung des Welthandelssystems › 3. GATT 1947
a) Gründung des GATT 1947
175
Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) sollte Teil der ITO-Rechtsordnung werden. Über das GATT und die ITO wurde allerdings getrennt verhandelt, was daran lag, dass die US-amerikanische Regierung über ein Mandat zum Aushandeln und Abschluss eines reinen Zollabkommens verfügte, die Gründung einer internationalen Organisation jedoch einer anschließenden Zustimmung durch den Kongress bedurfte. Die Verhandlungsparteien konnten sich bereits im Jahr 1947 auf einen Text für das GATT einigen, der am 30. Oktober 1947 unterzeichnet wurde. Um die liberalisierende Wirkung des GATT bereits vor Inkrafttreten des ITO-Übereinkommens nutzen zu können, setzten zunächst 23 Vertragsparteien das GATT auf der Grundlage eines Protokolls über die vorläufige Anwendung (Protocol of Provisional Application) am 1. Januar 1948 in Kraft.[1]
176
Die Charta zur Errichtung einer Internationalen Handelsorganisation (ITO) wurde 1948 auf der Konferenz von Havanna verabschiedet (Havanna Charta). Sie sah ein umfangreiches Programm vor, das neben Handelsliberalisierung auch internationales Wettbewerbsrecht, Auslandsinvestitionen und Beschäftigungs- und Entwicklungspolitik enthielt. Die Havanna Charta wurde zwar von 53 Staaten unterzeichnet; ihr Inkrafttreten scheiterte jedoch, da US-Präsident Truman davon absah, die Charta dem Kongress zur Ratifikation vorzulegen. Aufgrund der gescheiterten Ratifikation in den USA ratifizierten auch die meisten anderen Staaten die Charta nicht.
Anmerkungen
Das ursprüngliche GATT blieb im Kern auch nach der Revision des Welthandelsrechts durch die Uruguay-Runde im Jahr 1994 in Kraft. Zur Abgrenzung wird das ursprüngliche Abkommen in der WTO als GATT 1947 bezeichnet und das nach 1994 geltende Abkommen als GATT 1994. In der Literatur ist die Bezeichnung teilweise unterschiedlich. Wenn im Folgenden von „GATT 1947“ die Rede ist, ist damit das multilaterale Handelssystem von 1948–1994, d.h. vom Inkrafttreten des GATT 1947 bis zum Inkrafttreten des WTO-Übereinkommens, gemeint. Werden einzelne Artikel des GATT erwähnt, wird die Bezeichnung „GATT“ gewählt, da sich der Wortlaut der Vorschriften nicht geändert hat.
b) Struktur und Funktion des GATT 1947
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Das GATT 1947 war ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag, der aufgrund seiner geplanten Integration in die Rechtsordnung der ITO über keine institutionelle Struktur, insbesondere über keine eigenen Organe, verfügte. Als sich herausstellte, dass die Havanna Charta nicht in Kraft treten würde und das GATT 1947 somit nicht in eine institutionelle Struktur eingegliedert werden würde, entstand bei den Vertragsparteien das Bedürfnis, ihren Handelsbeziehungen einen gewissen organisatorischen Rahmen zu geben. Aus den zunächst nur informellen Strukturen entstand im Laufe der Jahre eine de facto-Organisation. Ob das GATT 1947 aus völkerrechtlicher Sicht als internationale Organisation angesehen werden konnte, war umstritten. Gegen die Einordnung als Organisation wurde eingewandt, dass die Vertragsparteien keine ausdrückliche Organisationseigenschaft vorgesehen hatten. Dieser Streit ist durch die Gründung der WTO gegenstandslos geworden.
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Hauptorgan des GATT 1947 war die Versammlung der Vertragsparteien. Um diese Versammlung der Vertreter der Vertragsparteien von den tatsächlichen völkerrechtlichen Vertragsparteien (d.h. den Staaten, die dem GATT beigetreten waren) zu unterscheiden, wurde die Versammlung der Vertragsparteien als „VERTRAGSPARTEIEN“ (Schreibweise in Großbuchstaben) bezeichnet.
Art. XXV:1 GATT
Die Vertreter der Vertragsparteien