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Der Klausurenkurs ist auf dem Stand von Dezember 2018 und legt der Fallbearbeitung insbesondere die Verträge, d.h. den Vertrag über die Europäische Union (EUV) sowie den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), in der Fassung des Vertrags von Lissabon (in Kraft getreten am 1.12.2009) sowie die WTO-Verträge, insbesondere das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) in der Fassung des Marrakesch-Abkommens (unterzeichnet am 15.4.1994) zugrunde. Darüber hinaus ist teilweise die Heranziehung weiterer internationaler Verträge, beispielsweise des Vertrages über die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), erforderlich, die allerdings in den gängigen Text- und Gesetzessammlungen abgedruckt sind.
A. Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union
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Der Rechtsbegriff der Verfassung meint grundsätzlich eine rechtliche Grundordnung eines Gemeinwesens, die aus formaler Sicht Verfahren zur Bewältigung von politischen Konflikten, insbesondere durch einen geregelten Staatsaufbau, vorgibt und darüber hinaus materiell-rechtliche Leitprinzipien grundrechtlicher oder struktureller Art enthält. Damit wohnt einer Verfassung eine sowohl einheits- als auch identitätsstiftende Wirkung für die legitimierte Hoheitsgewalt sowie das Gemeinwesen inne, wodurch die Verfassung als an sich rechtliche Materie (zumindest teilweise) politisiert wird. Als (rechtspolitische) Grundlage des Gemeinwesens ist eine Verfassung grundsätzlich nur unter erschwerten Voraussetzungen abänderbar, weist aufgrund der niedergelegten, naturgemäß abstrakten Prinzipien allerdings eine Offenheit auf, die ihre Bestandskraft maßgeblich erhöht. Wenngleich damit nicht der verfassungsrechtliche Anspruch auf Vollständigkeit einhergeht, deckt die Verfassung wesentliche Bereiche des Gemeinwesens ab, u.a. das Wirtschaftsleben, für dessen Ordnung sie mitunter eine politische Gesamtentscheidung, etwa in Bezug auf das Wirtschaftssystem, trifft und grundlegende Gestaltungselemente einführt. In modernen Verfassungen steht dabei insbesondere die wirtschaftliche Freiheit des Individuums im Spannungsverhältnis zu sozialstaatlichen und sonstigen regulativen Politiken.
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Historisch bedingt – insbesondere durch das seit dem Ende des 30-jährigen Krieges 1648 vorherrschende Westfälische System – ist der Verfassungsbegriff zwar staatsbezogen, wurde im Rahmen der europäischen Integration vom Gerichtshof allerdings bereits zur Charakterisierung der Unionsverträge (damals EWG-Vertrag) („Verfassungsurkunde“) herangezogen.[1] Jedenfalls spricht man bezüglich der von den Unionsverträgen geschaffenen Rechtsordnung grundsätzlich eher von einer Rechtsordnung sui generis,[2] deren Rechtsqualität sich von der Qualität des völkerrechtlichen Gründungsaktes gelöst hat und die aufgrund ihrer unmittelbaren Wirkung sowie des Vorrangs eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“[3] darstellt (siehe Fall 1, Rn. 108).[4]
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Nichtsdestotrotz erfüllt diese „neue Rechtsordnung“ wesentliche Verfassungsfunktionen, etwa die Organisation und Legitimation von Herrschaftsgewalt (vgl. etwa die allgemeinen Kompetenzordnungsprinzipien des Art. 5 EUV oder die Vorschriften zum ordentlichen und besonderen Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 289 ff. AEUV), und enthält zudem grundlegende materiell-rechtliche Verfassungselemente, etwa die Grundfreiheiten (vgl. Art. 28 ff. AEUV, Art. 45 ff. AEUV, Art. 49 ff. AEUV, Art. 56 ff. AEUV sowie Art. 63 ff. AEUV) und die Grundrechte (vgl. die Grundrechtecharta (GRCh), die gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV rechtlich gleichrangig zum AEUV und EUV ist).
I. Das wirtschaftsverfassungsrechtliche Leitbild
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Das wirtschaftsverfassungsrechtliche Leitbild der Unionsverträge, d.h. des EUV sowie des AEUV einschließlich der GRCh, ist gemäß Art. 119 Abs. 1, 2, Art. 120 S. 2 AEUV durch den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ bestimmt, die gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV auch ein soziales Element enthält („wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“). Dieses Bekenntnis zu einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung als objektiv-rechtliche Grundentscheidung findet Entfaltung in speziellen subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen, die ebenfalls das Wesen der unionalen Rechtsordnung maßgeblich prägen, etwa im Rahmen des Kartellrechts, dem das Idealbild eines Wettbewerbs zugrunde liegt, in dem Unternehmen eigenständig und selbstbestimmt am Markt agieren (siehe Fall 11, Rn. 662).[5]
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Wirtschaftsintegrationsrechtliche Grundlage der unionalen Rechtsordnung ist die Errichtung einer Zollunion (vgl. Art. 28 ff. AEUV i.V.m. Art. 3 Abs. 1 lit. a AEUV), die um binnenmarkt- und wettbewerbsrechtliche Elemente erweitert (vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV und Art. 101 ff. AEUV) und (zumindest in Teilen) zu einer Währungsunion weiterentwickelt worden ist (vgl. Art. 127 ff. AEUV) (siehe Fall 1, Rn. 74 ff.). Die offen marktwirtschaftliche Ausrichtung der Unionsverträge wird allerdings durch die Anerkennung nicht-wirtschaftlicher Allgemeininteressen, etwa die Querschnittsmaterien Umwelt- und Verbraucherschutz (vgl. Art. 11, 12 AEUV) oder die Grundrechte der GRCh, relativiert, die u.a. den Mitgliedstaaten regulative Gestaltungsspielräume verschaffen, die insbesondere in den geschriebenen (vgl. Art. 36 AEUV, Art. 45 Abs. 3 AEUV, Art. 52 AEUV [i.V.m. Art. 62 AEUV] und Art. 65 Abs. 1 lit. b AEUV) und ungeschriebenen (vgl. etwa die zwingenden Erfordernisse i.S.d. Cassis de Dijon[6]) Rechtfertigungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit Grundfreiheitseingriffen zum Ausdruck kommen (siehe u.a. Fall 2, Rn. 160 f.). Darüber hinaus finden sich im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik oder der Industriepolitik gar ausdrückliche Durchbrechungen des marktwirtschaftlichen Grundsatzes.
II. Historische Entwicklung der unionalen Wirtschaftsintegration
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Seinen historischen Ursprung findet das Unionsrecht in der Vergemeinschaftung der Kohle- und Stahlindustrie im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahre 1951 durch die westeuropäischen Staaten Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. Mit dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag; seit dem Vertrag von Maastricht EG-Vertrag; seit dem Vertrag von Lissabon AEUV) im Rahmen der Römischen Verträge vom 27.3.1957 wurde dieser Integrationsverbund im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, basierend auf einer Zollunion und unter dem Leitbild des „Gemeinsamen Marktes“, ausgebaut und gestärkt. Mit der Einführung eines gemeinsamen Zolltarifs gegenüber Drittstaaten und der Beseitigung von Binnenzöllen wurde am 1.7.1968 die Integrationsstufe der Zollunion verwirklicht.[7] Nachdem bereits infolge der Dassonville-Rechtsprechung des Gerichtshofs aus dem Jahr 1974 die Marktöffnung im Hinblick auf nicht-tarifäre Handelshemmnisse innerhalb der EWG erhöht werden konnte, die positive Integration durch Rechtsangleichung allerdings (vor allem aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses für derartige Maßnahmen) ins Stocken geraten war, priorisierte die Europäische Kommission die Entwicklung eines vollumfänglichen Binnenmarktkonzepts, was im Jahre 1985 in die Entwicklung des sogenannten Weißbuchs über die Vollendung des Binnenmarktes mündete. Dieses legte die Defizite der Verwirklichung des „Gemeinsamen Marktes“ offen und enthielt eine Reihe von Vorschlägen zur Harmonisierung von wesentlichen Rechtsvorschriften, die dem Funktionieren des Binnenmarktes entgegenstanden. Infolgedessen gab die am 1.7.1987 in Kraft getretene Einheitliche Europäische Akte (EEA) für die Vollendung des Binnenmarktes, d.h. einem Raum ohne Binnengrenzen, einen Zeitplan zur Durchführung der vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen zur Beseitigung von Handelshemmnissen bis zum 31.12.1992 vor (wenngleich der Frist keine rechtliche Wirkung