1 Einleitung
1.1 Hinführung zum Thema
Die Gerichtsbarkeit zählt zu den tragenden Pfeilern des modernen Staates. Neben der Gesetzgebung und der Regierung bildet die Rechtsprechung die dritte Säule der Staatsgewalt. Mögen die Menschen sich in rechtlichen Angelegenheiten streiten, mag es Verbrechen und Kriminalität geben – heute ist es der Staat, der solche Fragen verbindlich löst. Wer seine vermeintlichen rechtlichen Interessen eigenmächtig durchsetzen möchte und auf eigene Faust zur Selbsthilfe schreitet, verlässt damit den Boden des Rechts. An etwas versteckter Stelle, mit doppelter Verneinung und in juristischer Kunstsprache, spricht § 229 BGB die heutige Selbstverständlichkeit aus:
Wer zum Zwecke der Selbsthilfe eine Sache wegnimmt, zerstört oder beschädigt oder wer zum Zwecke der Selbsthilfe einen Verpflichteten, welcher der Flucht verdächtig ist, festnimmt oder den Widerstand des Verpflichteten gegen eine Handlung, die dieser zu dulden verpflichtet ist, beseitigt, handelt nicht widerrechtlich, wenn obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist und ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung des Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert werde.
Faustrecht ist damit grundsätzlich verboten. Nur dann, wenn staatliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist und die Gefahr besteht, dass eigene Rechtspositionen unwiederbringlich verloren gehen, ist Selbsthilfe in engen Grenzen noch erlaubt. Auch die Rechtfertigungsgründe im Strafrecht errichten strenge Schranken und dämmen auf diese Weise private Gewalt ein. Aussicht auf Erfolg kann der Gesetzgeber aber nur haben, wenn eine Gerichtsbarkeit bereitsteht, die dem Einzelnen tatsächlich sein Recht verschafft. Nur wenn in überschaubarer Zeit und mit vertretbarem Kostenaufwand richterliche, also staatliche Entscheidungen die streitigen Ansprüche klären und ggf. auch vollstrecken, strafbare Handlungen bestrafen und auf diese Weise die Rechtsordnung verteidigen, gibt es keinen Grund mehr zur Selbsthilfe. Sie ist dann überflüssig.
Im Blick zurück sind das alles keine Selbstverständlichkeiten. Die Rechtsgeschichte bietet Beispiele dafür, wie verschiedene Zeiten unterschiedliche Antworten auf sehr [<<13] ähnliche Fragen gegeben haben. Das staatliche Gewaltmonopol, die feinmaschige Gerichtsverfassung und das umfassend kodifizierte Verfahrensrecht mit seinen wesentlichen Prozessmaximen gehören zu den wichtigsten Ausprägungen des heutigen Rechtsstaates. Vergegenwärtigt man sich die entscheidenden Bausteine der modernen Gerichtsbarkeit, ergeben sich unschwer einige Leitfragen. Sie ermöglichen es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den ausgewählten historischen Beispielen und dem Recht unserer Zeit deutlicher zu erkennen. Die Leitfragen dienen zugleich dazu, die Stofffülle zu begrenzen und die Darstellung von überflüssigem Ballast freizuhalten. Es geht beim Studium der Rechtsgeschichte nicht darum, möglichst viele Einzelheiten zu wissen. Entscheidend sind die Einblicke in die jeweiligen Eigenarten verschiedener Epochen und die Fähigkeit, über die langen Zeiträume hinweg Regelungsprobleme und Lösungsmöglichkeiten miteinander zu vergleichen.
1.2 Leitfragen
Die Aufgabe des Historikers und damit auch des Rechtshistorikers besteht vor allem darin, den überkommenen Stoff zu sichten und zu ordnen. Die Leitfragen schlagen einige Breschen in die Quellenmassen. Sie tragen auf diese Weise dazu bei, das Kurzlehrbuch schlank zu halten. Im Wesentlichen geht es um drei große Fragen: 1. Welche Rolle spielte die Staatsgewalt für die Rechtsdurchsetzung in verschiedenen Zeiten? 2. Wie sah die jeweilige Gerichtsverfassung aus, welche Gerichte gab es, und welche Personen waren dort tätig? 3. Was waren die Prozessmaximen des jeweiligen Verfahrensrechts, und welche Möglichkeiten bestanden, gerichtliche Entscheidungen anzugreifen?
1.2.1 Staatsgewalt
An erster Stelle steht die Frage nach der Staatsgewalt. In welcher Weise sind und waren die Gerichtsverfassung und das Verfahrensrecht an den Staat oder einen Herrscher gebunden? Im modernen Recht fällt die Antwort leicht. Gerade in der älteren Zeit, der sog. Vormoderne, ist aber Vorsicht geboten. Rechtshistoriker und Juristen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis hin zu Eduard Kern und Heinrich Mitteis haben nach Vorformen von Rechtsstaatlichkeit, ja sogar von Demokratie bei den Germanen und im frühen Mittelalter gesucht. Das kann heute nicht mehr überzeugen, weil es damals noch gar keinen Staat gab. Die Leitfrage im Blick ermöglicht es vielmehr, auch Zeiten ohne Staatsgewalt zu erkennen und einzuordnen. Bis weit ins Mittelalter hinein kann von einem Staat im modernen Sinne keine Rede sein. Inwieweit Gerichte [<<14] und ihr Verfahren an einen Herrscher angebunden waren, erweist sich als schwieriges Problem, das nach unterschiedlichen Antworten verlangt. Überhaupt geraten erst dann, wenn man die Abwesenheit von Staatsgewalt ernst nimmt, andere zeittypische Formen rechtlicher Konfliktbewältigung vor das Auge des Betrachters. Gewalt und Konsens als Urformen der Streitlösung stehen am Anfang der Geschichte. Blutrache und Fehde bestimmten über lange Zeiträume die Rechtsdurchsetzung. Ob man sie als rechtliche Verfahren oder eher als tatsächliche Maßnahmen ansieht, ist vor allem eine sprachliche Frage.
Erst im hohen Mittelalter wurde die Fehde nach und nach bestimmten Spielregeln unterworfen. Die Gottes- und Landfrieden beschränkten sie zeitlich, örtlich und personell. Die entstehende Staatsgewalt versuchte, Frieden zu gewährleisten, und ging daher gegen die eigenmächtige Selbsthilfe vor, ohne sie zunächst aber zu verbieten. Der enge Zusammenhang von Fehdebeschränkung und hoheitlicher Gerichtsbarkeit stand den Zeitgenossen klar vor Augen. Besonders deutlich sieht man dies im Mainzer Reichslandfrieden von 1235. Er unterwarf nicht nur die Fehde mehreren strengen Voraussetzungen, sondern stellte mit dem erneuerten Reichshofgericht zugleich auch ein oberstes Reichsgericht bereit, das die königliche Gerichtsgewalt für jedermann sichtbar verkörperte. Erst mit dem Ewigen Landfrieden von 1495 gab es ein endgültiges Fehdeverbot. Erneut trat mit dem Reichskammergericht ein Gericht auf den Plan, das Landfriedensbrüche ahnden sollte. Im Hinblick auf die erste Leitfrage ist die Zäsur von 1495 gar nicht scharf genug zu ziehen. Auf dem Papier gab es nun das obrigkeitliche Gewaltmonopol, das Verbot jedweder Selbsthilfe, unterstützt durch ein neu organisiertes Gericht. Das hat Konsequenzen für den Aufbau dieses Lehrbuchs. In der Prozessrechtsgeschichte gibt es zwei wesentliche Zeittypen: Die Zeit vor dem staatlichen Gewaltmonopol und die Zeit unter dem staatlichen Gewaltmonopol. Dies erklärt die Zweiteilung des Buches.
Die hier gezogene Epochengrenze beruht auf einer deutschen Sichtweise. Eine deutsche Rechtsgeschichte erscheint manchen Rechtshistorikern inzwischen als verdächtig, teilweise gar als „unerträgliche Fiktion“. Doch wenn sich die Darstellung weithin auf die Rechtsgeschichte des deutschsprachigen Raumes beschränkt, behauptet sie damit nicht, die einheimische Rechtsgeschichte habe sich unbeeinflusst von anderen Traditionen aus ihren urgermanischen Wurzeln zur Blüte des 19. Jahrhunderts hin entwickelt. Zahlreiche Weichenstellungen verdankt das moderne Prozessrecht dem kanonischen Recht der mittelalterlichen Kirche und dann vor allem den französischen Reformen der napoleonischen Zeit. Auf dem Weg zum staatlichen Gewaltmonopol bildet 1495 aber eine Epochengrenze, die vorliegend einen älteren von einem neueren Sachtyp trennt. Auch Graustufen und Übergänge lassen sich mit der Leitfrage erfassen. Letzte Reste [<<15] der Patrimonialgerichtsbarkeit und der Aktenversendung an Universitäten verschwanden erst mit den Reichsjustizgesetzen von 1877/79. Und die staatliche Gerichtsbarkeit begann im 20. Jahrhundert zu zerbröckeln. In den Diktaturen war die Justiz nicht nur Werkzeug politischer Interessen, sondern zugleich beschränkt durch Sonderrechte von Polizei und Parteiorganisationen. Schließlich hat mit dem Verblassen der Staatsgewalt seit etwa 1960 auch die Gerichtsbarkeit weiter Federn gelassen. Europäische und internationale Gerichtshöfe überlagern die staatliche Justiz, Schiedsgerichte umgehen sie, Mediationen und Vergleichsschlüsse schaffen Rechtsfrieden ohne staatlichen Befehl. Das Lehrbuch stellt im Schlusskapitel das klassische rechtsstaatliche Ideal der tatsächlichen modernen Buntheit gegenüber. Daraus folgen mehrfach sehr subjektive Wertungen. Aber Geschichtsschreibung kommt nicht umhin, die Vergangenheit zu deuten. Die Maßstäbe werden freilich nur selten offengelegt, tauchen hier aber an verschiedenen Stellen auf.
1.2.2 Gerichtsverfassung
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