Das folgende Kapitel (Kap. 2) dient dazu, beim Leser die Voraussetzungen für die Betrachtung der Rechtsschichten der einzelnen erbrechtlichen Institute zu schaffen. Zu diesem Zweck ist der Leser mit einigen Eckdaten der römischen Geschichte sowie mit grundlegenden Informationen zur römischen Rechtsentwicklung auszustatten.
1 Der Text folgt der Transkription von Octave Guéraud/Pierre Jouguet, Un testament latin per aes et libram de 142 après J.-C. (Tablettes L. Keimer), Études de papyrologie 6 (1940) 1 – 20 sowie Jean Macquéron, Le testament d’Antonius Silvanus (Tablettes Keimer), RHD 23 (1945) 123 – 170; Korrekturen nach Detlef Liebs, Das Testament des Antonius Silvanus, römischer Kavallerist in Alexandria bei Ägypten, aus dem Jahre 142 n. Chr., in: Klaus Märker/Christian Otto (Hrsg.), Festschrift Weddig Fricke, Freiburg 2000, 113 – 128; eine neuere Übersetzung findet sich bei Benedikt Strobel, Römische Testamentsurkunden aus Ägypten vor und nach der Constitutio Antoniniana, München 2014, 65 – 109.
2 Eine Rekonstruktion der Juristenwerke wurde unternommen von Otto Lenel, Palingenesia iuris civilis, 2 Bde., Leipzig 1889 (Nachdr. Graz 1960 mit einem Supplement von Lorenz Edgar Sierl, davon 2. Neudr. Aalen 2000).
3 Aus: Ulrich Manthe, Gaius Institutiones, 2. Aufl. Darmstadt 2010, 8 f.
4 Max Kaser, Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt, München2 1971, § 157.III, 671. Dieser Standpunkt findet sich bereits bei Fritz Schulz, Classical Roman Law, Oxford 1951, 203, der betont: „Classical jurisprudence discussed the law of succession on death with obvious predilection and at the same time admirable delicacy, but […]. This part of classical law was highly complicated and to a large extent perplexedly entangled, but the classical lawyers did little to simplify it. Their professional relish for details and for vexed questions was too strong for them, and, absorbed in the spinning of this fine network, they forgot the maxim simplicitas legum amica.“
5 Fritz Schulz, Classical Roman Law, Oxford 1951, 204.
6 Alle Übersetzungen wurden von Thamar Xandry und Ulrike Babusiaux eigenständig angefertigt. Als Hilfsmittel für die Digesten wurden die alte deutsche Übersetzung von Carl Eduard Otto/Bruno Schilling/Carl Friedrich Ferdinand Sintenis (Hrsg.), Das Corpus Juris Civilis in’s Deutsche übersetzt von einem Vereine Rechtsgelehrter, 7 Bde., Leipzig 1830 – 1833 sowie die neue deutsche Übersetzung herangezogen, im Einzelnen: Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Sebastian Lohsse/Thomas Rüfner (Hrsg.), Corpus iuris civilis I: Institutionen, 4. Aufl. Heidelberg 2013; Okko Behrends/Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Hans Hermann Seiler (Hrsg.), Corpus iuris civilis II: Digesten 1 – 10, Heidelberg 1995; dies. (Hrsg.), Corpus iuris civilis III: Digesten 11 – 20, Heidelberg 1999; Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Hans Hermann Seiler/Okko Behrends (Hrsg.), Corpus iuris civilis IV: Digesten 21 – 27, Heidelberg 2005; Rolf Knütel/Bertold Kupisch/Thomas Rüfner/ Hans Hermann Seiler (Hrsg.), Corpus iuris civilis V: Digesten 28 – 34, Heidelberg 2012. Für die Institutionen des Gaius wurde die Übersetzung von Ulrich Manthe, Gaius Institutiones, 2. Aufl. Darmstadt 2010, konsultiert.
Das Erbrecht ist mehr als jedes andere Rechtsgebiet von den kulturellen Prägungen einer Gesellschaft abhängig. Ein vertieftes Verständnis und die Darstellung der historischen Entwicklung des römischen Erbrechts verlangen daher Kenntnisse des allgemeinen historischen wie des rechtshistorischen Rahmens, in dem sich die Erbrechtsentwicklung vollzieht.
Im Folgenden ist zunächst die historische Entwicklung Roms zu skizzieren, bevor die wichtigsten Stadien der römischen Rechtsentwicklung zu beschreiben sind.
2.1 Der allgemeine historische Rahmen
Die Geschichte Roms lässt sich in die Zeit der Republik (510 – 27 v. Chr.), des Prinzipats (27 v. Chr. – 284 n. Chr.) und der Spätantike (306 n. Chr. – 565 n. Chr.) einteilen.
Übersicht 5: Zeittafel zur Orientierung
Zur Orientierung sind im Folgenden diese Eckdaten zu erläutern und Schlaglichter auf einige Ereignisse und Akteure zu werfen, die für die Rechtsentwicklung bedeutsam waren.
Nach römischer Geschichtsschreibung beginnt die Republik mit dem Sturz des letzten Königs, der seine Herrschaft über die Stadt Rom und das Umland (Latium) ausgeübt hatte. Mit dem Sturz des Königs scheint die Macht in die Hände von einflussreichen und wohlhabenden Familien (Patriziern) übergegangen zu sein, die alle Schlüsselpositionen des Staates besetzten. In der Nachfolge des Königs stand der Höchstmagistrat (praetor maximus), wobei der Name praetor (von praeire = „vorangehen“) darauf hindeutet, dass er zugleich der Heerführer gewesen sein dürfte. Im Unterschied zum Königtum wurde das Amt jährlich neu vergeben, also wechselweise von Angehörigen der Patrizier ausgeübt.
Die nicht an der Macht beteiligten Bevölkerungsgruppen entwickelten mit der Zeit ein eigenes Standesgefühl und wurden als Plebejer (von plebs = „Menge“) bezeichnet. Da sie an den Kriegen Roms teilnehmen mussten, forderten sie Beteiligung an der politischen Macht. Zugeständnisse der Patrizier wurden in verschiedenen Schritten erreicht: So erhielten die Plebejer 494 v. Chr. zwei eigene Magistrate, die als Gegengewicht zur Herrschaft der Patrizier durch den praetor maximus dienten. Diese Magistrate wurden als Vorsteher der Plebs (tribuni plebis) gewählt und auch von den Patriziern als unantastbar (sakrosankt, von sacrosanctus = „unverletzlich, hochheilig“) angesehen. Auf diese Weise konnten die Volkstribune die Plebejer gegen magistratische Willkür schützen, indem sie Widerspruch (veto) gegen Maßnahmen der Patrizier einlegten, selbst aber nicht dafür belangt werden konnten. Im Laufe des fünften Jahrhunderts v. Chr. verdoppelte sich sowohl die Zahl der patrizischen Höchstmagistrate (praetores) als auch die der tribuni plebis auf je vier. Das Recht lag jedoch nach wie vor in den Händen patrizischer Familien, welche die Priester (pontifices) stellten, denen die Auskunft über die Sätze des göttlichen wie des menschlichen Rechts anvertraut war und die dieses Vorrecht – so die römische Geschichtsschreibung – einseitig zugunsten ihres Standes nutzten.
Eine erneute Revolte der plebs richtete sich gegen diese Willkür. Sie mündete in die erste umfassende Fixierung rechtlicher Vorschriften, in das um 450 v. Chr. erlassene Zwölftafelgesetz (lex duodecim tabularum).7 Seine Rechtsvorschriften wurden im Rom der Kaiserzeit auf griechische Vorbilder zurückgeführt: Eine Delegation sei aus Rom in griechische Städte gereist und mit zehn Gesetzestafeln nach Rom zurückgekehrt. In der Rechtsanwendung hätten sich Regelungslücken gezeigt, die durch zwei weitere Tafeln geschlossen worden seien. Auch wenn schon in der Republik die Tafeln des Gesetzes nicht mehr verfügbar waren, dienten die Zwölftafeln im gesamten hier betrachteten Zeitraum als Referenz- und Ausgangspunkt der Rechtsentwicklung. Berühmt geworden ist die Aussage des 27 v. Chr. bis 17 n. Chr. schreibenden Historikers Livius, die Zwölftafeln seien die „Quelle allen öffentlichen und privaten Rechts“ (fons omnis publici privatique est iuris, Liv. 3,34,6).
Zur Befriedung des Gegensatzes zwischen Patriziern und Plebejern genügte das Zwölftafelgesetz allerdings nicht. Der römischen Geschichtsschreibung zufolge erstritten die Plebejer in verschiedenen weiteren Schritten die Beteiligung an weiteren Ämtern, insbesondere auch an den magistratischen Höchstämtern, der Prätur und dem Konsulat. Nachdem 387 v. Chr. die Gallier