203Da die Versuchsstrafbarkeit einen Tatentschluss und damit vorsätzliches Handeln voraussetzt (vgl. noch Rn. 621ff.), spielt bei den HIV-Fällen weiterhin die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit eine erhebliche Rolle. Der BGH bejaht im Fall des ungeschützten Geschlechtsverkehrs bei Kenntnis der eigenen HIV-Infizierung in der Regel vorsätzliches Handeln des Täters, allerdings nur hinsichtlich eines Körperverletzungsdeliktes. Trotz der grundsätzlich sehr niedrigen Infektionsgefahr eines einzigen ungeschützten Sexualkontakts sei dieser dennoch geeignet, das Virus zu übertragen, was vom Täter billigend in Kauf genommen werde.[212] Jedoch sei ein |72|Tötungsvorsatz zu verneinen, da hinsichtlich der Tötung eines Menschen eine besondere innere Hemmschwelle bestehe und zu Gunsten des Täters davon ausgegangen werden müsse, dass er auf zukünftige – derzeit noch unbekannte – Heilungsarten vertraue oder gehofft habe, das AIDS-Virus werde bei seinem Partner überhaupt nicht ausbrechen.[213] Von dieser Annahme ausgehend ist in den HIV-Fällen in der Regel eine Strafbarkeit wegen versuchter Körperverletzung anzunehmen.
204In der Literatur wird die vom BGH vorgenommene Spaltung des Vorsatzes überwiegend abgelehnt. Eine Auffassung lehnt unter Berufung auf die minimale Infektionsgefahr eines einzigen ungeschützten Sexualkontakts (0,1–1 %) sowohl den Körperverletzungs- als auch den Tötungsvorsatz ab, da dem Täter nach allgemeiner Lebenserfahrung diese minimale Infektionsgefahr bewusst sei.[214] Andere bejahen sowohl den Körperverletzungs- als auch den Tötungsvorsatz, weil der Täter sich zur Erreichung seines Zieles („Geschlechtsverkehr“) mit der erkannten und ernst genommenen Gefahr einer tödlichen Infizierung des Partners abgefunden habe, weshalb nicht nachvollziehbar sei, entsprechend der Ansicht des BGH zwar den Vorsatz des Täters, das Opfer zu infizieren, zu bejahen, den Tötungsvorsatz aber zu verneinen.[215]
VII. Tatbestandsannex: Objektive Bedingung der Strafbarkeit
1. Bedeutung und Einordnung im Straftataufbau
205In wenigen Ausnahmefällen enthalten die Strafnormen des Besonderen Teils objektive Merkmale, die nicht vom Vorsatz des Täters umfasst sein müssen. Es handelt sich um sog. objektive Bedingungen der Strafbarkeit, die nach der Feststellung des subjektiven Tatbestands als Tatbestandsannex zu prüfen sind.[216] Ob – was selten vorkommt – eine objektive Bedingung der Strafbarkeit zur Straftat gehört, ergibt sich durch Auslegung der Vorschriften des Besonderen Teils. Eine objektive Bedingung der Strafbarkeit ist z.B. in § 231 Abs. 1 StGB (Beteiligung an einer Schlägerei) der Tod oder die schwere Körperverletzung. Die Prüfung des Tatbestandes von § 231 Abs. 1 StGB beschränkt sich mithin auf die Feststellung, dass der Täter an einer Schlägerei bzw. an einem Angriff mehrerer beteiligt war und diesbezüglich mit Vorsatz gehandelt hat. Erst hieran anschließend ist festzustellen, dass durch die Schlägerei bzw. den Angriff objektiv der Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung verursacht wurde. Auf die subjektive Einstellung des Täters hinsichtlich der schweren Folge kommt es für seine Strafbarkeit nicht an.
206|73|Weitere objektive Bedingungen der Strafbarkeit sind bspw. in § 186 StGB (Üble Nachrede) die Nichterweislichkeit der Wahrheit und in § 323a Abs. 1 StGB (Vollrausch) die Begehung einer rechtswidrigen Tat im Rauschzustand. Die objektive Bedingung der Strafbarkeit ist wie folgt in den Straftataufbau zu integrieren:
Tab. 5:
207Objektive Bedingung der Strafbarkeit im Straftataufbau
1. | Tatbestand |
a) objektiver Tatbestand | |
b) subjektiver Tatbestand | |
2. | Objektive Bedingung der Strafbarkeit |
3. | Rechtswidrigkeit |
4. | Schuld |
2. Leitentscheidungen
208BGHSt 14, 132, 133ff.; Nachträglicher Bedingungseintritt bei § 231 StGB: Ein Jugendlicher nimmt an einer Schlägerei auf einer Kirmes teil. Nachdem er sich wieder vom Ort der Schlägerei entfernt hat, wird einer der an der Schlägerei Beteiligten tödlich verletzt. – Der BGH bejahte die Voraussetzungen des § 231 Abs. 1 StGB, obgleich die objektive Bedingung der Strafbarkeit zu einem Zeitpunkt eintrat, in dem der Jugendliche nicht mehr an der Schlägerei mitwirkte. Die durch die eigene Mitwirkung erhöhte Gefährlichkeit einer Schlägerei wirke regelmäßig über die Dauer der eigenen Beteiligung fort, so dass das Verhalten des Jugendlichen vom Schutzzweck des § 231 Abs. 1 StGB erfasst werde.
209BGHSt 16, 130, 131ff.; Vorzeitiger Bedingungseintritt bei § 231 StGB: Ein Gastwirt gerät durch eine nach § 32 Abs. 1 StGB gerechtfertigte Verteidigungshandlung in eine Schlägerei. Im Verlauf der Schlägerei überschreitet er sein Notwehrrecht, ohne die Voraussetzungen des § 33 StGB zu erfüllen. Eine der an der Schlägerei beteiligten Personen wird tödlich verletzt, zu diesem Zeitpunkt hatte der Gastwirt sich noch auf zulässige Verteidigungshandlungen beschränkt. – Auch hier bejahte der BGH die Voraussetzungen des § 231 Abs. 1 StGB und stellte fest, dass eine Strafbarkeit wegen Beteiligung an einer Schlägerei generell auch dann in Betracht komme, wenn die objektive Bedingung der Strafbarkeit in einem Zeitpunkt eintritt, in dem der Täter sich der Schlägerei noch nicht angeschlossen hat. Mit dem Zweck des § 231 StGB sei es nicht zu vereinbaren, den Zeitpunkt der Beteiligung über die Strafbarkeit entscheiden zu lassen.
|76|3. Kapitel Rechtswidrigkeit
I. Grundlagen
210Das an die Verwirklichung eines Straftatbestandes geknüpfte Unwerturteil führt nicht zur Strafbarkeit des Täters, wenn sein Verhalten gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Rechtfertigungsgründe können dem StGB, aber auch der gesamten übrigen Rechtsordnung, selbst dem Gewohnheitsrecht entnommen werden. Ist ein Verhalten nach bürgerlichem oder öffentlichem Recht erlaubt, kann es im Strafrecht nicht als verboten angesehen werden. Die bedeutsamsten Rechtfertigungsgründe im StGB sind die Notwehr in § 32 StGB und der (rechtfertigende) Notstand in § 34 StGB. Von den außerhalb des StGB existierenden Rechtfertigungsgründen weisen das Festnahmerecht in § 127 StPO sowie die zivilrechtlichen Notstände in §§ 228, 904BGB die größte Prüfungsrelevanz auf. Ein gewohnheitsrechtlich begründeter Rechtfertigungsgrund ist die mutmaßliche Einwilligung.
211In der Klausur ist die Frage, ob der Täter gerechtfertigt ist, in der Regel nur dann ausführlich zu erörtern, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür existieren, dass die Voraussetzungen eines oder mehrerer Rechtfertigungsgründe vorliegen. Ist dies eindeutig nicht der Fall, kann die Prüfung auf den schlichten Hinweis beschränkt werden, dass die Tatbestandsverwirklichung mangels Eingreifen von Rechtfertigungsgründen auch rechtswidrig erfolgte. Bei einigen wenigen sog. offenen Tatbeständen des Strafrecht BT muss die Rechtswidrigkeit hingegen stets positiv festgestellt werden. Wichtigstes Bsp. ist die Nötigung nach § 240 StGB.[217] Gemäß § 240 Abs. 2 StGB ist eine Nötigung nur dann rechtswidrig, wenn die Anwendung von Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Der Täter einer Nötigung ist hiernach gerechtfertigt, wenn ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund eingreift (mit der Folge, dass die Tat zugleich nicht verwerflich i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB ist), oder wenn die Tathandlung im Hinblick auf das von ihm anvisierte Ziel nicht als verwerflich anzusehen ist.[218]