Das BVerfG gab den Arbeitsgerichten damit eine „zweistufige“ Prüfung vor:350 Auf der ersten Stufe sei zu prüfen, ob in dem jeweiligen Fall nach dem Selbstverständnis der verfassten Kirche eine „arbeitsrechtlich abgesicherte“ Loyalitätspflicht besteht, inwiefern eine Loyalitätspflichtverletzung des kirchlichen Arbeitnehmers vorliege und schließlich, wie schwer diese Loyalitätspflichtverletzung nach kirchlichem Selbstverständnis wiege.351 Auf einer zweiten Stufe hätten sodann die Gerichte unter Anwendung der kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften der §§ 1 KSchG, 626 BGB zu klären, ob die Loyalitätsobliegenheitsverletzung eine Kündigung sachlich rechtfertige.352 Die Gewichtung der Obliegenheitsverletzung durch das Revisionsgericht im Rahmen der gem. §§ 1 KSchG, 626 BGB erforderlichen Interessenabwägung habe nach Ansicht des BVerfG das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV verletzt, weil das BAG der Schwere der Loyalitätsverletzung im Sinne des Selbstverständnisses der verfassten Kirche nicht ausreichend Rechnung getragen habe.353
3. Die Chefarzt-Entscheidung
a) Hintergrund
Erneut war es das außerdienstliche Verhalten eines nordrhein-westfälischen Mediziners, das dem 2. Senat des BVerfG Gelegenheit gab, sich mit der arbeitsgerichtlichen Prüfungskompetenz in Bezug auf kündigungsrelevante Loyalitätsobliegenheiten zu befassen:
Seit dem Jahre 2000 war der Katholik „JQ“ als Chefarzt in einem unter Aufsicht des Erzbistums Köln stehenden Krankenhaus beschäftigt, das durch eine dem Bistum unterstehenden Kapitalgesellschaft („IR“) betrieben wurde. JQ ließ sich während des laufenden Beschäftigungsverhältnisses Anfang 2008 von seiner Ehefrau zivilrechtlich scheiden. Die nach kanonischem Recht geschlossene Ehe wurde kirchenrechtlich allerdings nicht für nichtig erklärt. Nachdem JQ einige Zeit mit einer neuen Lebensgefährtin zusammengelebt hatte, was seinem Arbeitgeber bekannt war, heiratete er diese schließlich Mitte des Jahres 2008 standesamtlich. Als die Arbeitgeberin IR hiervon Anfang 2009 erfuhr, kündigte sie JQ daraufhin ordentlich das Arbeitsverhältnis. Die gegen diese Kündigung gerichtete Klage von JQ war in allen drei arbeitsgerichtlichen Instanzen erfolgreich.354 Das BAG wies die Revision der Arbeitgeberin IR mit Urteil vom 8. September 2011355 zurück und führte aus: Auch wenn der Loyalitätsverstoß der Wiederheirat dem Grunde nach eine Kündigung rechtfertige356, überwögen vorliegend die Grundrechte und Interessen des gekündigten Arbeitnehmers.357 Im Rahmen der Interessenabwägung stellte das Gericht fest, dass die bisherige Handhabung des kirchlichen Dienstgebers gegen die Notwendigkeit der Durchsetzung des sittlichen Loyalitätsanspruchs spreche.358 Erstens beschäftige das Krankenhaus auch nichtkatholische Chefärzte, sodass sie auf das Lebenszeugnis der katholischen Mitarbeiter weniger angewiesen sei.359 Zweitens habe sie mehrere wiederverheiratete Chefärzte in der Vergangenheit beschäftigt.360 Drittens habe die Dienststelle die nichteheliche Lebensgemeinschaft, die der Heirat vorangegangen war, gekannt und toleriert361, und viertens spreche für den Arzt der Schutz aus Art. 8 und Art. 12 EMRK sowie der Umstand, dass die Eheschließung nicht in feindlicher Gesinnung oder erkennbarer Ablehnung der Sittenlehre der Kirche erfolgt sei.362
b) Die Gründe des Chefarzt-Urteils
Das auf das Revisionsurteil hin angerufene BVerfG stellte fest, dass die Arbeitsgerichte erneut die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Kirche verkannt und verletzt hätten. Das Gericht bestätigte in einer deutlich umfangreicheren Begründung die Wertungen des Stern-Urteils und präzisierte die zweistufige Prüfung:
Auf der ersten Stufe habe das Arbeitsgericht eine „Plausibilitätskontrolle“ vorzunehmen und zu prüfen, „[…] ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrages [teilhabe], ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes [sei] und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis […]“ zukomme.363 Sodann folge auf der zweiten Stufe eine Gesamtabwägung im Sinne der Schranke der „für alle geltenden Gesetze“, bei der „im Lichte des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts“ die sich widersprechenden Rechtspositionen in einen Ausgleich zu bringen seien.364 Auf Seiten der Arbeitgeberin seien dies ihre kirchlichen Belange und die korporative Religionsfreiheit, auf Seiten des Arbeitnehmers dessen Grundrechte (Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG365) sowie dessen sonstige, einfachgesetzlich normierten Schutzrechte.366
Soweit nach der Stern-Entscheidung noch offen und streitig gewesen war, ob die Gerichte bei ihrer Abwägung entgegenstehende Arbeitnehmergrundrechte zu berücksichtigen hätten367, beantwortete das BVerfG die Frage durch die Nennung einzelner Arbeitnehmergrundrechte, die mit der kirchlichen Position in einen schonenden Ausgleich zu bringen seien.368 Arbeitsgerichtliche Regelungen müssten, soweit sich die Kirche ihrer bediene, „[…] im Lichte der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung zugunsten der kirchlichen Selbstbestimmung […]“ ausgelegt werden, selbst wenn es sich um zwingende Regelungen handle. Dem Selbstverständnis der Kirche sei insoweit ein „besonderes Gewicht“ beizumessen.369
Bei der Überprüfung von arbeitsrechtlich relevanten Loyalitätsobliegenheiten hätten die Arbeitsgerichte den „organischen Zusammenhang“ der Statusrechte aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV und dem Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu beachten und umzusetzen.370 Dem kirchlichen Arbeitgeber obliege es, plausibel dazulegen, inwieweit eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit aufgrund der gemeinsamen Glaubensüberzeugung oder Dogmatik verlangt werden müsse, wobei das Gericht ggf. ein kirchenrechtliches Sachverständigengutachten einzuholen habe.371 Die so gewonnene Wertung habe das Gericht im Rahmen der Grenzen der Rechtsordnung seiner Entscheidung zugrunde zu legen, ohne eine eigene Einschätzung hinsichtlich der Gefährdung der Glaubwürdigkeit durch einen Verstoß oder hinsichtlich der Nähe der Arbeitnehmerfunktion zum kirchlichen Sendungsauftrag vorzunehmen.372 Der eigenständigen Überprüfung des Tätigkeitsbezugs einer nach Konfession der Mitarbeiter differenzierenden Loyalitätsanforderung durch die Arbeitsgerichte erteilte das BVerfG eine klare Absage:
„Den staatlichen Gerichten ist es insoweit verwehrt, die eigene Einschätzung über die Nähe der von einem Arbeitnehmer bekleideten Stelle zum Heilsauftrag und die Notwendigkeit der auferlegten Loyalitätsobliegenheit im Hinblick auf Glaubwürdigkeit oder Vorbildfunktion innerhalb der Dienstgemeinschaft an die Stelle der durch die verfasste Kirche getroffenen Einschätzung zu stellen […].“373
In der Abwägungsentscheidung auf der zweiten Stufe wirke sich u.a. aus, ob dem Arbeitnehmer die Loyalitätsanforderung bei dem Verstoß bekannt gewesen war, da mit der bewussten Unterwerfung unter die kirchlichen Anforderungen auch ein freiwilliger Verzicht auf gewisse Freiheitsrechte einhergehe.374 Das BVerfG stellte ferner klar, dass das Arbeitsrecht keine absoluten Kündigungsgründe kenne und daher stets eine den Wechselwirkungen der widerstreitenden Rechtspositionen Rechnung tragende Abwägung zu erfolgen habe.375 Obgleich dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche kein prinzipieller Vorrang vor den Arbeitnehmergrundrechten gebühre, sei ihm dabei ein „besonderes Gewicht“ beizumessen.376 Diese modifizierte Abwägung harmoniere auch mit den Wertungen des Art. 11 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 9 Abs. 1 EMRK und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EGMR.377
4. Zusammenfassung und Stellungnahme
§ 1 KSchG und § 626 BGB stellen besonders relevante, „für alle geltende Gesetze“ i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV dar.378 Die „weltlichen“ Arbeitnehmerschutzgesetze finden kraft Rechtswahl auf die kirchlichen Arbeitsverhältnisse Anwendung379 und eröffnen eine