Ein Geräusch reißt mich ruckartig aus meinen Gedanken. Das Knirschen von Bewegungen auf dem leicht gefrorenen Schnee. Alle Muskeln meines Körpers spannen sich an, während ich mich vollkommen auf meine Sinne konzentriere. Kein Geräusch soll mir entgehen. Keine Bewegung soll ungesehen bleiben. Und dann erblicke ich die Ursache des Geräusches und auch wenn ich vollkommen konzentriert bleibe, erlaube ich meinen Muskeln, sich wieder etwas zu entspannen. Nur wenige Meter von mir entfernt hoppelt ein gut genährter Feldhase hinter einem Baum hervor, bleibt stehen und putzt sich. Würde mein Magen sich nicht so schmerzhaft leer anfühlen, würde ich vielleicht sogar denken, dieses Tier wäre zu niedlich, um es zu töten. Doch wir brauchen etwas Nahrhaftes zwischen den Zähnen und so klemme ich meine Violine zwischen mein Kinn und meine Schulter. Sofort durchschwemmt eine Welle von Energie meinen Körper, als das kalte Holz die nackte Haut an meinem unbedeckten Hals berührt. Kein Gefühl auf der Welt ist mir so vertraut wie dieses. Immer und immer wieder habe ich versucht, diese Fähigkeiten auch mithilfe anderer Instrumente einzusetzen. Doch bei keinem davon, nicht einmal bei einem anderen Streichinstrument, gelang es mir. Ich weiß nicht wieso, aber meine einzige funktionierende Waffe ist die Violine. Vielleicht erfahre ich irgendwann den Grund dafür. Ich schließe meine Augen, rufe mir das Bild meiner Umgebung in meine Gedanken und keine Sekunde später höre ich das schnelle Schlagen des kleinen Tierherzens. Der Hase scheint völlig unbeschwert zu sein und doch hat er einen viel höheren Ruhepuls als wir Menschen. Ich atme tief durch, versuche mich dadurch nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Und so schaffe ich es, mich vollkommen auf diesen einen deutlichen Herzschlag zu konzentrieren, ihn förmlich in mich aufzunehmen, die Pulswellen auf meiner Haut zu spüren und zu fühlen, wie sie die Saiten der Violine zum Vibrieren bringen. Das ist mein Stichwort. Möglichst langsam, um das Tier keinesfalls zu alarmieren, setze ich den Bogen an und beginne zu spielen. Kein Ton ist zu hören. Dafür ist das menschliche Gehör schlichtweg nicht geschaffen. Doch ich fühle jede einzelne Schallwelle über das Instrument und dessen Steg hinweg durch die Luft auf den Feldhasen zurasen. Tiere haben eine so viel bewusstere Wahrnehmung als wir Menschen, deren Sinne immer mehr verkommen. Der Hase scheint verschwinden zu wollen und doch führt er nur eine kleine Zuckung aus, bewegt sich jedoch kaum vom Fleck. Das kleine Herz beginnt immer schneller zu rasen, doch ich lasse mich nicht irritieren, beschleunige mein Spiel im selben Tempo, bis ich schließlich die Frequenz und Amplitude des pochenden Tierherzens erreicht habe und es ins Stolpern gerät. Der Rhythmus kommt immer mehr aus dem Takt. Mein Spiel folgt seinem Beispiel. Und dann passiert es. Noch zwei, drei Mal rumpelt der Puls des Hasen unkontrolliert vor sich hin, dann ist plötzlich alles still. Das Herz des Hasen hat für immer aufgehört zu schlagen. Still und heimlich hatte es seine eigene kleine Resonanzkatastrophe, gegen die es sich nicht wehren konnte. Das Abendessen ist gesichert. Ein klein wenig stolz darauf, dass ich das Tier so schnell und ohne Komplikationen töten konnte, hebe ich den Kadaver auf, um das Tier zum Lager zu bringen, als ein schriller Schrei die Vögel aus den Bäumen hochschrecken lässt. Und mich in sofortige Alarmbereitschaft versetzt.
»Marlena!« Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, sprinte ich schon zwischen den viel zu dicht stehenden Bäumen hindurch in die Richtung, aus der ich den Schrei vermute. »Marlena!«, rufe ich wieder, ungeachtet dessen, dass man uns entdecken könnte, falls es doch jemand anders sein sollte, der diesen markerschütternden Ruf von sich gegeben hat. Oder sich noch jemand in diesen Wald verirrt hat.
»Ich bin hier«, wimmert eine vertraute Stimme ganz in der Nähe. Blindlings stürme ich auf sie zu, ignoriere den Ast, der mir geradewegs ins Gesicht peitscht. Wenige Augenblicke später bremse ich abrupt ab, um Marlena nicht über den Haufen zu rennen, die auf dem Boden kniet. Über etwas gebeugt. Oder wohl eher über … jemanden. Ruckartig schnappe ich ihren Oberarm und ziehe sie zu mir hoch, weg von dem reglosen Mann, der vor unseren Füßen, mit dem Gesicht nach unten, im Schnee liegt.
Ich mache einen Schritt nach hinten, ziehe Marlena mit mir, die sich jedoch augenblicklich von mir losreißt.
»Was ist hier passiert?«, frage ich sie, während ich weiterhin den grauen, etwas schütteren Haarschopf anstarre.
»Das fragst du noch?«, blafft sie mich an. »Das müsstest du doch wohl am besten wissen! Gerade wollte ich etwas Feuerholz und Zunder suchen, wie du mich gebeten hast, als ich plötzlich in diesen Mann hineingerannt bin. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich dachte, sie hätten uns. Und dann hast du angefangen zu spielen und Sekundenbruchteile später, als der Mann den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hat er die Augen viel zu weit aufgerissen, während seine Mundwinkel und Finger unkontrolliert zu zucken begonnen haben. Die leise Melodie der Violine wurde immer schneller und bevor ich endlich kapiert habe, was hier gerade eigentlich passiert, ist der Mann auch schon vor meinen Füßen umgekippt. Das hat mich so erschreckt, dass ich reflexartig geschrien habe. Den Rest der Geschichte kennst du ja.« In ihrem Blick liegt eine so große Abscheu, dass ich vorsichtshalber einen Schritt von ihr wegmache. Ich will sie nicht noch mehr verängstigen.
Fassungslos schüttelt sie den Kopf. »Warum hast du das getan? Klar stellt er eine zusätzliche Gefahr für uns dar, aber das ist doch auch keine Lösung!«
Also daher weht der Wind. »Das war ich nicht. Zumindest wollte ich das nicht«, beteure ich. Doch Marlena scheint mir gar nicht zuzuhören.
»Du kannst doch nicht einfach jeden Menschen umbringen, der uns möglicherweise gefährlich werden könnte.«
»Jetzt hör mir doch mal zu: Ich wollte ihm nichts tun.«
»Wie kannst du nur …« Inzwischen ist ihre Stimme zu einem geschockten Flüstern geworden.
Das wird mir jetzt echt zu blöd. Ich packe sie an den Schultern und bringe sie so endlich einmal dazu, mir ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. »Und ich sage es noch einmal: Verdammt, Marlena, ich wusste nichts von dem Mann! Ich wollte ihm nichts tun, ich habe lediglich einen Hasen erlegt!« Damit sie mir endlich glaubt, hebe ich das braune Häschen auf, das ich zwar mitgenommen, vor lauter Irritation aber habe fallen lassen, und halte es ihr vor die Nase.
Langsam nickt sie. Scheint mir zu glauben, scheint zu verstehen. Als hätte sie einen Geistesblitz, weiten sich plötzlich ihre Augen. »Das heißt, er ist vielleicht gar nicht tot?«
Wie auf Kommando werfen wir uns beide vor dem Mann auf die Knie und suchen nach seinem Puls, bis Marlena ihn schließlich findet, als sie das Handgelenk des Mannes umklammert. »Er lebt«, haucht sie, »aber er ist total kalt.«
»Schnapp‘ dir den Hasen und komm.« Mit Schwung schultere ich den alten Mann und eile zurück zum Lager, nicht ohne mich noch einmal mit einem Blick über die Schulter zu vergewissern, dass mir Marlena auch wirklich mit unserer Beute folgt. Und nicht nur das. Meine Violine hält sie in der anderen Hand, wenn auch möglichst weit von ihrem Körper entfernt. Durch die Sorge um Marlena und diesen Fremden habe ich das Instrument, das ich genauso achtlos zu Boden geworfen habe wie den Hasen, vollkommen vergessen. Ich habe das einzig Beständige in meinem Leben einfach im Schnee liegen lassen. Und das alles nur wegen dieser verrückten Gefühle. Wie kann mir nur so etwas passieren? Ich selbst weiß keine Antwort darauf.
Kapitel 4 – Marlena
Zwar glaube ich Valentin und doch verstehe ich einfach nicht, was dann mit diesem