Prompt verschlucke ich mich an meinem eigenen Speichel und versuche unter krampfhaftem Husten wieder normal Luft zu bekommen. Habe ich mich gerade verhört?
»Wie um Himmelswillen kommst du gerade auf dieses Lied?«, krächze ich, als ich wieder zu Atem komme.
Und dann dreht sie mir endlich ihr Gesicht zu. Das warme Licht der Kerze lässt das Grün in ihren Augen mit dem warmen Braun tanzen und ihren Blick erstrahlen.
»Wir beide wissen, dass du alles andere als fehlerfrei bist. Und das bin auch ich nicht. Niemand ist das. Doch wenn du mir erzählst, du würdest keine Skrupel oder Schuldgefühle haben, dann belügst du nicht nur mich, sondern auch dich selbst. Das haben wir heute wohl beide mehr als deutlich gemerkt.«
Ich erschaudere. Sie hat mich zwar heute in einem meiner schwächsten Momente erlebt und doch hat sie keine Ahnung, was ich bereits alles getan habe. Das ist mit nichts zu entschuldigen. »Aber -«, versuche ich sie zu unterbrechen, doch sie schneidet mir das Wort ab.
»Nichts aber!«, zischt sie mir entgegen. »Du wurdest von Kind auf dazu gedrillt zu töten und Befehle zu befolgen. Meinst du wirklich ich wüsste nicht, welche Narben du unter deiner Kleidung versteckst? Du wurdest geschlagen, misshandelt und gefoltert. Ich musste so etwas noch nie miterleben und doch weiß selbst ich, dass die wulstigen Striemen auf deinem Rücken von Peitschenhieben stammen.« Kurz stockt sie, schluckt als würde ihr bittere Galle aufstoßen. »Ich weiß, dass das, was du getan hast, nicht mehr rückgängig zu machen ist. Doch ich sehe auch eine andere Seite in dir. Ich sehe Kummer. Ich sehe Fürsorge. Mitgefühl. Angst. Ich sehe Trauer und ich sehe Liebe. Ob du es zugibst oder nicht, ich sehe das alles in dir! Vielleicht kannst du dir selbst nie verzeihen. Aber ich für meinen Teil habe dir so viel zu verdanken. Zwar wäre ich womöglich ohne dich jetzt nicht in dieser beschissenen Lage, doch gleichzeitig würde ich das alles niemals ohne dich durchstehen. Ich wäre wahrscheinlich am ersten Tag geschnappt worden oder erfroren. Und ich meine nicht nur das. Du hast mich schon einmal aus einem tiefen Loch gezogen. Du gibst mir Halt, du gibst mir Schutz und bei dir spüre ich Geborgenheit. Ich wollte es lange nicht wahrhaben, doch es ist nun einmal so. Ich -«
Weiter kommt sie nicht, denn meine Lippen versiegeln die ihren. Flammen züngeln durch die Eisdecke meines Herzens, schmelzen den Frost weg, bringen mein Blut zum Brodeln. In meinem Leben habe ich schon viele Frauen geküsst. Mehr, als dass ich sie an meinen Fingern und Zehen abzählen könnte. Und auch Marlena habe ich zuvor schon geküsst. Mehrmals. Doch noch nie habe ich so empfunden wie heute. Feuer und Eis fechten einen Kampf in meinem Herzen aus, der es nur noch schneller pochen lässt. Beflügelt greife ich nach ihrer Taille, streiche vorsichtig ihre dicke Strickweste beiseite. Meine Fingerkuppen streifen behutsam den dünnen Stoff ihres T-Shirts, das sie darunter trägt, doch auch so beginnen meine Hände bereits zu zittern. Auch Marlena scheint das alles andere als kalt zu lassen. Kurz habe ich Angst, ich könnte sie überfordern, sie verschrecken. Doch auch sie erschaudert und vertieft den Kuss sogar noch weiter, drängt sich zwischen meine Lippen und liebkost meine Zunge mit der ihren. Als ich meinen Griff um ihre Taille verstärke, presst sie sich näher an meinen Körper, hat sich mir nun fast gänzlich zugewandt. Begierig schiebe ich den Stoff ihres dünnen Shirts ein Stück nach oben, während ich die Hitze in meinem Körper kaum mehr aushalte und doch will ich nicht zu schnell handeln, will Marlena zu nichts drängen. Als hätte sie meine Gedanken gehört, löst sie sich ein Stück von mir. Kaum entfernt sich ihr Körper wenige Zentimeter von meinem, spüre ich bereits, wie die Kälte in meinem Inneren wieder Einzug zu halten droht. Ich sehe bereits vor mir, wie sie mich von sich schiebt, höre das Wort »Stopp« oder »warte« in meinen Gedanken. Ich hätte es wissen sollen. Zuerst lasse ich ihre Gefühle zu mir einfach unkommentiert und dann mache ich das hier. Ich bin so ein Idiot.
Doch zu meiner Überraschung blickt sie mir tief in die Augen, ein umwerfendes Lächeln lässt ihr ganzes Gesicht erstrahlen. Sie gibt mir noch einen flüchtigen Kuss, dann steht sie auf und geht zur Tür. Angst schlägt ihre Krallen in meine Eingeweide. Sie verlässt mich. Geschlagen lasse ich den Kopf hängen, versuche mich zusammenzureißen, als ich höre, wie sich die Tür schließt. Sekundenbruchteile später begreife ich, dass sich mir Schritte nähern, anstatt in der Ferne zu verhallen. Schon lässt sie sich vor mir auf die Decke nieder, fesselt mich mit ihrem Blick und streift mir zuerst zögerlich, dann jedoch immer bestimmter den kratzigen Pullover über den Kopf. Noch nie zuvor wollte ich einer Frau unbedingt so nahe wie möglich kommen, wie ich es bei Marlena in diesem Augenblick will. Jede Stelle ihres Körpers soll unter meinen Küssen glühen. Ich möchte sie am liebsten nie wieder loslassen. Als ich endlich merke, dass auch sie nichts anderes will, kann ich nicht mehr an mich halten, versuche trotzdem so ruhig wie möglich zu bleiben und den Moment in vollen Zügen zu genießen. Mit geschickten Handgriffen entferne ich ihre Weste, ihr T-Shirt gefolgt von dem meinen. Ihren BH öffne ich mit einer schnellen, routinierten Bewegung. »Du bist so wunderschön.« Erst als die Worte über meine Lippen gehuscht sind, realisiere ich, dass ich diesen Gedanken laut ausgesprochen habe. Ein erhitztes Aufkeuchen ihrerseits verdrängt alle meine anderen Gedanken sofort wieder. Wir küssen uns, lieben uns, es ist, als würden wir exakt dort weitermachen, wo wir vor etwas mehr als einer Woche stehen geblieben sind, und doch fühle ich mich mit Marlena inzwischen so viel verbundener. Es ist schlichtweg überwältigend, als würde ich nicht nur ihre Haut auf meiner spüren, sondern als umschlängen sich unsere Seelen, um ein unzerstörbares Band zu bilden.
Als ich irgendwann so da liege, die zerwühlte Decke und das wärmende Stroh unter mir, lausche ich dem ruhigen und gleichmäßigen Atem der wunderschönen Braunhaarigen, die bereits eingeschlafen ist und sich im Schlaf an mich schmiegt. Ihr warmer Atem streift immer wieder meine nackte Brust und plötzlich ist mir, als hörte ich ein allumfassendes Knacken, so tief in mir drin, als würde sämtliches Eis unwiderruflich von meinem Herzen gesprengt.
Es ist das letzte, das ich wahrnehme, bevor auch mir die müden Augen zufallen und ich nicht mehr unterscheiden kann, was Traum und was Realität ist.
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