Wenig später sollte sich ein ähnliches Geschehen abspielen. Ich hatte einen pilzunkundigen Bekannten und dessen Sohn Steffen mit in den Wald genommen. Der Vater wollte unbedingt selbst ein paar Steinpilze finden, um sie anschließend zu trocknen und zum Würzen von Saucen zu verwenden.
Steffen, damals fünf oder sechs Jahre alt, folgte mir in der Dickung auf Schritt und Tritt, fand wohl auch hin und wieder einen Pilz, den er mir zur Prüfung vorzeigte, doch die ersehnten Steinpilze blieben aus, und der Junge wurde missmutig. Vielleicht wollte ich ihn nur aufmuntern, vielleicht erfüllte mich auch ein hoffnungsfrohes Ahnen, als ich vorschlug: »Legen wir uns doch einmal hin, hier müssen doch welche stehen!« Wer zuerst unten war, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass wir, auf dem Boden liegend, ein Bild gewahrten, das uns für eine Weile die Sprache verschlug: Unter einer nahen Baumgruppe präsentierte sich uns eine reichliche Handvoll wunderschöner Steinpilze. Der schallende Kommentar von Steffen: »Papa, hinlegen musst du dich!«
In diesem Moment war der Junge wohl ernstlich davon überzeugt, dass man Steinpilze im Liegen sucht. Wir zwängten uns durch dichte Baumzeilen zum Standort und ernteten unseren Fund, alles kräftige, gesunde Pilze. Glücklicherweise verlief unsere Suche fortan auch im aufrechten Gang so erfolgreich, dass ich nicht noch einmal mit Steffen zu Boden gehen musste.
Der Vater hatte seine Pilze zum Trocknen. Der Sohn hatte eine interessantes Erlebnis, ich konnte helfen. Alle waren zufrieden.
Es war das einzige Mal, dass uns mein Bekannter in den Wald begleitete. Er kaufte sich, wenn er nicht von uns ein paar abbekam, seine Trockenpilze wieder im Laden. Steffen hat die Episode sicher schnell vergessen. Er ist, soviel ich weiß, kein Pilzfreund geworden.
Eine angenehme Überraschung
An mehr oder weniger guten Bekannten, die zu einer Pilzwanderung mitgenommen werden möchten, fehlt es dem erfahrenen Pilzfreund kaum. Deren Motive können weit auseinander liegen: den einen geht es um den Einmaleffekt, ein paar selbst gesuchte Pilze heimzuholen, die anderen wollen auf Dauer Nutzen ziehen. Letztere sind potenzielle Konkurrenten. Also muss man sich die Bittsteller genauer ansehen und mögliche Folgen überdenken, ehe man ihrem Drängen nachgibt.
In unsere Einrichtung kam eines Tages von weither ein neuer Mitarbeiter, der mich, nachdem ihm mein Ruf als Pilzfan zu Ohren gekommen war, geradezu bestürmte, ihm »auf die Sprünge zu helfen«. Das war so ein Potenzieller. Obwohl ich das erkannte und Nachteile voraussah, konnte ich ihn aus Höflichkeitsgründen nicht abwimmeln. Dass er mir in der Folgezeit nicht ins Gehege kam, lag daran, dass er das von mir ausgewählte Gebiet in einem Waldmassiv bei Hanshagen später allein nicht wiederfand. Bald hatte er seine eigenen Reviere abgesteckt.
Also fuhren wir mit Wagen bis zu einem Wegekreuz, wo ich jedes Mal parkte, stiegen aus und schlugen die von mir bevorzugte Route ein, die mehrere hundert Meter durch lichten Kiefernhochwald führte. Die Suche war mühelos, unsere Körbe füllten sich zusehends vor allem mit jungen, kräftigen Maronenröhrlingen. Mein Begleiter ließ seiner Begeisterung freien Lauf, während in mir der Gedanke Gestalt annahm, diese Pilzstelle künftig mit ihm teilen zu müssen.
Wir waren an jenem Brandstreifen angelangt, hinter dem das junge, niedrige und dichte Fichtengehölz begann, das ich allein oder in familiärer Begleitung mehrfach ohne nennenswerten Erfolg nach Pilzen abgesucht hatte. Da hieß es umkehren, und ich traf schon Anstalten dazu, als sein Freudenschrei ertönte. Er sprang hinaus auf den Brandstreifen und überquerte ihn hastig. Bald entdeckte ich auch den Grund: Steinpilze drüben am Saum des Wäldchens, etwa zwanzig Stück, alles Prachtexemplare! Es sah aus, als hielten kleine Waldkobolde eine festliche Versammlung ab. Noch nie hatte ich so viele schöne und noch dazu gesunde Steinpilze auf einem Fleck gesehen. Das war ein Schatz, den ich allein bestimmt verfehlt haben würde, denn ich hätte diesen Waldrand »aus Erfahrung« keines Blickes gewürdigt.
So offenbarte ich einem Kollegen eine meiner Pilzstellen und gewann durch ihn eine neue hinzu. Jahrelang ernteten wir dort unsere Steinpilze, bis der Ertrag immer geringer wurde. Zugleich erhielt ich eine heilsame Lektion, was die Erfahrung mit fündigen und nichtfündigen Flecken betrifft. Ganz abgesehen davon, dass man auf Waldränder immer ein Auge haben sollte, kann man leicht Chancen versäumen, wenn man die Veränderlichkeit der Pilzflora außer acht lässt und sich allzu starr an »seine Pilzstellen« klammert.
Der Tod der Rotkappe
Das erwähnte Fichtenwäldchen brachte nach einigen Jahren bald nichts mehr als ein paar Ziegenlippen, wohl auch einmal einen Maronenröhrling oder ein Kuhmaul. Der vorgelagerte Brandstreifen, der schnell vergraste, trug bald auch keine Rotkappen mehr. Eine Zeitlang fanden wir dort unter einer Gruppe junger Birken in kurzen Zeitabständen regelmäßig eine Handvoll Orangegelber Rotkappen, die, ihrer Schönheit wegen, auf dem Heimmarsch stets den Ehrenplatz ganz obenauf im Pilzkorb erhielten. Das wiederholte sich so zuverlässig, dass wir gar nicht auf den Gedanken kamen, dieser Quell könne einmal versiegen, und überrascht waren, als dieser Fall eintrat.
Eines Tages in der beginnenden Abenddämmerung nahmen meine Frau und ich wieder einmal Kurs auf die Birkengruppe, um am Ende unseres Streifzuges auch noch »unsere schönen Rotkappen« zu ernten. Da blieb meine Frau, die gerade im Begriff war, auf den Rasenstreifen hinauszutreten, plötzlich stehen. Auch ich war beunruhigt. Irgendetwas war anders als sonst. Bald wurde mir bewusst: Die Birken sind weg!
Meine Frau stand wie angewurzelt, konnte es wohl gar nicht begreifen. Und so stand sie noch lange, was mir sonderbar vorkam, bis ich die Erklärung fand: Drüben im Saum des Fichtenwäldchens verhoffte, ebenso reglos wie meine Frau, eine Bache, unverwandt zu dem Störenfried auf zwei Beinen herüber sichernd. Sie standen sich, nur durch den schmalen Brandstreifen getrennt, so nahe gegenüber, dass sie selbst im Dämmerlicht jede Einzelheit aneinander wahrnehmen und keine Regung voreinander verbergen konnten. Sekunden um Sekunden verstrichen. Die Bache gewann zuerst die Fassung wieder und trat den Rückzug an.
Als sich meine Frau einigermaßen beruhigt hatte, machte ich sie auf die Birken aufmerksam. Man hatte sie abgesägt und liegen lassen. Rotkappen fanden wir nicht und sollten wir dort auch nie wieder zu Gesicht bekommen. Der Pilz war mit seinen Symbiosepartnern auf Gedeih und Verderb verbunden. Ohne die Hilfe der Birken bei der Aufnahme von Nähr- und Aufbaustoffen konnte er nicht weiterleben.
Als wir am Abend die Begebenheit mit der Bache auswerteten, wurden wir an ein früheres Zusammentreffen mit Schwarzkitteln in diesem Fichtengehölz erinnert. Damals waren wir, meine Frau und ich, auf der Pirsch nach Steinpilzen, jeder in seinem Streifen. Sehen konnten wir uns nicht, wohl aber hören: ein Knacken, ein Rascheln … Da wir unsere Beute, wie üblich, an Ort und Stelle säuberten, waren wir beide ziemlich beschäftigt. Das war wohl der Grund dafür, dass eine (sicher belanglose) Frage an meine Frau, die ich ganz in der Nähe wähnte, unbeantwortet blieb. Ich rief nach ihr. Zu meiner Verwunderung kam die Antwort aus einer ganz anderen Richtung und aus einiger Entfernung. Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, überstürzten sich die Ereignisse: Zu meiner Linken preschte in panischer Hast eine Rotte Wildschweine vorbei. Das war ein Stampfen und Brechen, ein Schnauben und Grunzen, dass es einem bange werden konnte. In das Getöse mischte sich ein menschlicher Laut, ein verhaltener und doch vernehmbarer Angstschrei. Kurz darauf trat völlige Stille ein.
Es war, als sei ein Spuk vorübergezogen. Nur der aufgewühlte Waldboden und das frisch gebrochene Gezweig sowie die unverwechselbare herbe Witterung, die im Dickicht hing, bezeugten, was geschehen war.
»Sie hätten mich fast umgerannt«, sagte meine Frau. »Mir kam der Gedanke, auf einen Baum zu klettern. Da war auch schon alles vorbei. Nur meine Knie fingen an zu zittern.«
Seit dieser Begebenheit ist das Fichtenwäldchen für uns »der Schweinewald«.
Kommen und Gehen
Der Wald ist in unseren Breiten überwiegend Wirtschaftsobjekt. Planmäßige Holzeinschläge, Aus- und Aufforstungen haben großen Einfluss auf die