Wotan entfuhr ein Seufzer. Weil ihm soeben klar geworden war, dass der Fünf-Uhr-Rückreisezug nicht mehr zu schaffen war und weil sein Kumpel Donar ja nun wohl offensichtlich die Tatsachen verkannte.
Hatte doch jahrhundertelang Jehova ganz allein das gesprochen, was heutzutage als „Kiezdeutsch“ in aller Möchtegern-Ghettokids Munde war. „Weil ich krasser Gangster bin, ey!“, war die Antwort gewesen, als der Allvater irgendwann einmal nach dem Grund für diese Eigenart gefragt hatte. Und auch wenn Wotan bis heute rätselte, was das wirklich bedeutete – er musste zugeben, dass dieser Wüstengangster ihn zumindest am Tag seiner Ankunft nach allen Regeln der Kunst kriminell überrumpelt hatte: „Ey, ey …, w … wohn isch ma bei dir, Alter!“ – während Wotan noch gegrübelt hatte, was diese geheimnisvollen Worte wohl bedeuten mochten, war der Fremde ja schon dabei gewesen, im Gästezimmer seine Sachen auszupacken!
Erst viel später, Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts, hatten ein paar Haschisch-Dealer im Raum Frankfurt Rödelheim plötzlich aus einer Laune heraus die sprachlichen Eigenarten ihres besten Kunden übernommen und sie zu all ihren anderen Käufern weitergetragen. Mit jedem herumgereichten Joint hatte der alberne Slang sich dann unter sämtlichen Idioten des deutschsprachigen Raums verbreitet, mehr und mehr, bis in den hinterletzten Winkel.
Was das Problem mit dem Gästezimmer aber auch nicht löste.
Während Wotans Miene sich darüber immer weiter zu verfinstern begann, räusperte Mimir ein wenig grünen Schleim aus seinem Halsloch in den Weisheitsbrunnen. So, wie er es immer tat, nach dem Erlangen einer wichtigen Erkenntnis. Angesichts der vorangegangenen Pleiten schien Wotan dies aber alles andere als aufzumuntern.
„Seltsam, seltsam …“, murmelte der Riese davon unbeirrt. „Auch bei den Menschen schimpft und jammert er immer nur rum, wenn er ausrastet, oder?“
„Besser isses!“, grummelte Wotan angriffslustig, weil sie diesen Punkt doch nun wirklich bereits abgehakt hatten.
„Ich meine …“, fuhr Mimir trotzdem fort, „Vielleicht is’ man ja bisschen peaciger drauf als Dauerkiffer – aber, also … wenn er früher ganze Städte plattgemacht hat vor Wut, dann würde es für ne Straße oder n’ Haus doch eigentlich noch reichen. Oder … wenigstens für’n Zimmer …“
„Ja, klar! Is ja auch nich’ dein Gästezimmer!“
„Das meine ich doch gar nicht! Nur – vielleicht hat Jehova gar keine Wahl!“
„Hä?“
„Na, vielleicht kann er das in Wirklichkeit gar nicht. Also das mit dem Plattmachen.“
„Du meinst, er wär so was wie’n Hochstapler? Krass!“ Ehrliches Entsetzen legte sich über Donars Züge.
„Hm“, brummte Mimir erneut. Und diesmal verzichtete Wotan darauf, in der nun entstehenden Stille weitere Rückreisemöglichkeiten auszuloten.
„Phh … ganz ehrlich“, nuschelte der Obergott schließlich, so zaghaft, dass seine Stimme im Plätschern der Weisheitsquelle beinahe unterging, „Jehova selbst hat eigentlich nie gesagt, dasser … Städte plattmacht und so. Das haben immer nur die Menschen …“
„Du … du meinst, die sagen sowas, auch wenn’s gar nich’ stimmt?! Aber das wär doch eine Lüge!“ So fassungslos war der Hammerträger, dass es Wotan die Tränen in die Augen trieb – ob aus Verzweiflung oder doch aus bewunderndem Staunen über die kindliche Unschuld seines Kollegen.
„Vielleicht“, begann Mimir – merklich darum bemüht, des Hammerträgers Weltbild nicht gänzlich zu zerstören – „Vielleicht passt es manchen Menschen einfach … ganz gut in den Kram, wenn andere Menschen Angst haben. Weil … man denen dann leichter Vorschriften machen kann.“
„Jehova wird also“, Wotan fiel es wie eine Schuppe von seinem einen Auge, „Jehova wird also von den Menschen nur benutzt?! Und – und er lässt es die ganze Zeit mit sich machen?!“
„Is’ halt’n Erfolgsmodell, so ne Benutz mich-Nummer! Kurt Kobain, Britney Spears, Michael Jackson, Jehova – alles dieselbe Soße“, ätzte Mimir und Wotan war endgültig baff: „Was’n Weichei!“
„Und ‚Weichei’ is jetzt besser als ‚Spacko’, oder wie?!“, polterte sich Donar verärgert zurück ins Gespräch. „Außerdem is’ man noch lange kein Weichei, nur … nur weil man schwach is’ und sich nich’ wehren kann! Da is’ man höchstens –“ Aufgebracht schnappte der Hammerträger nach Luft und suchte nach einem passenden Wort, ohne es zu finden, „Da is’ man höchstens …“
„Ne arme Sau“, stellte Wotan betreten fest. Und ihm war anzumerken, dass er sich mit einem Mal ein wenig schämte.
„Phh“, schnaufte Mimir abfällig, weil ihm so viel Mitgefühl nun wirklich zu weit ging, „Drei Weltreligionen, Mann! Is halt der Preis des Ruhms. Wer das eine hat, muss das andere mögen!“
„Aber ne Woche heulen, wenn Michael Jackson stirbt!“
„Phh.“
„Nich’, dass Jehova auch so endet.“
„Oder wie Amy Winehouse …“
„Oder wie Rex Gildo!“
„Jetzt reicht’s aber, Allvater! Da is ja Weichei noch besser!“
Doch auch, wenn Wotan sich jetzt noch ein wenig mehr schämte – wegen seiner Frechheit dem armen Jehova gegenüber und noch mehr, weil er ganz offensichtlich tausendsechshundert Jahre lang der miesesten aller Lügen aufgesessen war – dass er mit einem Mal wusste, was er zu tun hatte, erfüllte ihn mit Freude und auch ein wenig mit Stolz.
„Und du glaubst wirklich, das hilft?“
„In allen Ratgebern steht, dass man unnachgiebig sein soll. Einfach durchziehen das Ganze, auch wenn’s schwerfällt.“ Mit grimmiger Miene stopfte Wotan den Bong der Marke „Power Tower“ und Jehovas Gras-Vorräte für die kommende Woche in zwei große, blaue Müllsäcke. Wovon der Wüstengott nichts mitbekam, weil er tief und fest schlief unter seinem Federbett.
Er schlummerte noch immer, als Frija mit einem Ruck beide Vorhänge beiseite zog. Explosionsartig pufften dicke, mehlige Staubwolken links und rechts neben dem dreckstarrenden Fenster aus den Gardinenfalten, mischten sich in der Luft des Gästezimmers mit den Qualmschwaden zu gräulich-weißem Nebel.
Darin eingehüllt Heimdall, göttlicher Wächter der Welten und Virtuose des mächtigen Gjallarhorns, dessen dröhnender Klang die Asen für gewöhnlich vor ungebetenen Eindringen warnte, hoch oben auf der Regenbogenbrücke zwischen Midgard und Asgard.
Heute allerdings stand Heimdall ausnahmsweise mal direkt an Jehovas Kopfende.
Der Flur im dritten Stock des Jobcenters Berlin-Tempelhof-Schöneberg war überfüllt. Wie immer kurz vor Feierabend, obwohl jedes Mal alle so taten, als hätte man das nun wirklich nicht absehen können.
Dass aber Kadir und Christoph Unterhuber, Sachbearbeiter für Arbeitssuchende mit den Anfangsbuchstaben I bis J beziehungsweise N bis O einander durch die offenen Bürotüren wissend zugrinsten, hatte einen anderen Grund.
Kadir und Christoph taten das, weil sie sich liebten. Und weil der Typ vor Kadirs Schreibtisch schon der dritte Irre in dieser Woche war, der behauptete, Gott zu sein.
„Nicht Gott! Ein Gott. Das ist schon ein ziemlicher