Eigentlich, so hatten anfangs alle befürchtet, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Laden nach einer Drogenrazzia würde schließen müssen. Aber irgendwie schien es seitens des männlich-heterosexuellen Teils der Berliner Polizei gewisse Berührungsängste zu geben. Und wenn Homophobie ja auch sonst zu wirklich gar nichts nutze war, so bescherte sie zumindest dem Besitzer des Mykonos seit fast zehn Jahren eine sichere Existenz und halb Schöneberg damit einen entspannten Feierabend.
Probleme hatte der Betreiber trotzdem. Weil es kaum jemand vom Service lange aushielt, zwischen den Sandhügeln. Der Stundenlohn war zwar ordentlich und das Nacktsein in der Hitze fanden viele sogar reizvoll. Dass aber spätestens nach einer halben Schicht die Knöchel schmerzten vom Laufen in den Dünen unterschätzten die meisten ebenso, wie die Auswirkungen einer täglichen Überdosis THC.
Immer wieder gab es deshalb regelrechte Hilferufe ans Jobcenter, weil jemand kurzfristig gekündigt hatte. Doch auch wenn Kadir und Christoph ihren Beruf wirklich ernst nahmen und sich bemühten – so lange es offiziell nicht möglich war „langjähriger Kiffer mit kräftigen Fußgelenken“ in die Liste der geforderten Qualifikationen aufzunehmen, blieb die Vermittlung neuer Servicekräfte ein Lotteriespiel.
„Dann rede halt einfach noch mal mit ihr.“ Wotan Allvater atmete durch. Weil er ja niemanden beleidigen wollte. Aber – da konnte sein Freund und Lehrmeister noch zehnmal den Ruf haben, das weiseste Wesen aller neun Welten zu sein – es gab Dinge, von denen hatte Mimir, der Riese, nun wirklich absolut keine Ahnung!
Was man in gewisser Weise ja hätte voraussehen können. Zwar fand das meiste Weibsvolk Status wichtiger als Optik, aber nur ein Kopf reichte den Damen dann eben doch nicht und etwas anderes war Mimir schließlich nicht geblieben, nach diesem einen verhängnisvollen Schwerthieb im großen Asen-Vanenkrieg.
Dass er sich noch dazu nicht einmal regelmäßig die Haare schneiden oder den Bart stutzen ließ, weil er dererlei „Chi Chi“ vollkommen überflüssig fand, trug ebenfalls nicht gerade zur Erweiterung seines Erfahrungshorizonts im Umgang mit dem anderen Geschlecht bei. Weswegen Mimir wohl tatsächlich glaubte, man könne „noch mal reden“ mit einer Frau, die sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Ganz im Gegensatz zum Allvater und seinem besten Kumpel Donar Hammerträger, die diesen Sachverhalt nun wirklich beurteilen konnten, nach über viertausend Jahren Ehemännerdasein. „Vergiss es!“, schnauften sie deshalb beide gleichzeitig in Mimirs Richtung, denn da gab es nichts zu diskutieren! Wenn eine Frau beschlossen hatte, es sei Zeit ausgerechnet jetzt ein Problem zu lösen, dann war es Zeit, ausgerechnet jetzt ein Problem zu lösen, selbst wenn das Problem bereits seit über tausendsechshundert Jahren in ihrem Gästezimmer lag.
„Und wenn du einfach mal Klartext mit ihm redest!“
„Ganz tolle Idee …!“, grollte Wotan, der die nicht wenig beschwerliche Reise hierher zu Mimirs Brunnen der Weisheit langsam zu bereuen schien. „Was glaubst du denn, was ich gemacht habe, die letzten tausendsechshundert Jahre?!“
„Echt?“ Der Riese schien ehrlich verwundert. „So: Schluss, aus, pack deine Sachen, du Penner, verpiss dich und so …?“
„Bist du irre?“, fiel Donar Hammerträger dem Weisen ins Wort. „Den darfste nich’ aufregen, Mann! Auf keinen Fall aufregen! Der knallt total durch, der Spacko!“
„Also bitte!“, murrte Wotan verdrossen. Weniger über Donars Bemerkung als darüber, dass ihm auch nichts Vernünftiges einfiel – aber irgendwo musste der Ärger ja hin.
„Ich sach nur, wie’t is“, murrte Donar zurück,
„Trotzdem nennt man so einen nich’ ‚Spacko‘, sondern höchstens ‚Individuum mit gestörter Impulskontrolle‘“, verbesserte der Allvater.
„Gestör … wat?“ Wotans Wortwahl schien der eher gemütlichen Auffassungsgabe des Hammerträgers nicht unbedingt entgegenzukommen.
„Impulskontrolle, Mann! Wenn … wenn die gestört is’, dann kann man sich nich’ zusammenreißen. Also in nem Streit oder so. Dann macht man halt immer nur das, wonach einem gerade is’. Zum Beispiel eben … voll ausrasten.“
„Aaaah … so“, Donar nickte beflissen, wenn auch noch sichtlich beschäftigt mit dem Verarbeitungsprozess der eingegangenen Information.
„Und was macht der dann so, wenn der ausrastet?“, hakte Mimir nach.
„Na voll rumbrüllen und alles!“ Mit einem Ruck war der Hammerträger aus seiner Denk-Trance erwacht und ehrliche Empörung zerfurchte seine Züge. „Da … da musste nur ma ganz freundlich sowas sagen wie ‚Hey, Jehova, wie wärs’n mal mit aufstehen?’ oder so, dann komm’ da gleich so Sachen, wie ‚Ey, schwul oder was?’ oder ‚Ey, scheiss ich deine Mutter in Briefkasten, Alter!’ Widerlich, Mann! Total widerlich!“
„Das ist alles?!“ Fassungslosigkeit ließ Mimirs Brauengestrüpp zu einem Balken zusammenschnurren, bis er aussah, als habe man ihm eine Gemüsebürste über die Nasenwurzel geklebt.
„Nein, Mann!“, knurrte Wotan und warf Donar einen mitleidigen Blick zu. Es war ja liebenswert, wie des Hammerträgers unschuldiges Gemüt sich schon an derartigen Kleinigkeiten aufrieb. Aber natürlich ging es hier um etwas ganz anderes.
Um Vorsicht und Besonnenheit nämlich, weil dem Wüstengott, schon eine Ewigkeit bevor er an der oberasischen Behausung geklopft und Obdach eingefordert hatte, ein Ruf wie Donnerhall vorausgeeilt war! Ganze Städte habe er einfach mal so in Schutt und Asche gelegt und einen gesamten Kontinent elendiglich ersaufen lassen – nur, weil ihm die Menschen dort nicht genügend untertan gewesen waren. Weswegen die Bewohner Mittel- und Nordeuropas sich dann ja auch tunlichst beeilt hatten, bloß nicht denselben Fehler zu machen – und Wotans Götterkarriere dieser Knick verpasst worden war, von dem sie sich bis heute nur zaghaft erholte.
„Hm …“ Die Gemüsebürste über des Riesen mächtiger Nase wanderte langsam nach schräg links oben bis fast zu seinem struppigen Haaransatz, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte. „Ich weiß ja, was die Menschen über ihn erzählen, aber … seit er bei euch ist, hat er nur geschimpft und gejammert, nichts weiter. Richtig?“
„Ja, richtig“, knurrte Wotan trotzig. „Und das is’ ja wohl auch sehr gut so!“
Schließlich war es ja auch nicht zuletzt Wotans Verdienst!
Hatte doch der Allvater selbst den Wüstengestörten sofort nach dessen Auftauchen vorsorglich mit den beruhigenden Eigenschaften des Hanfrauches bekanntgemacht. Dass Jehova mittlerweile nur noch aus dem Haus ging, um sich Rauschmittel-Nachschub zu besorgen, war natürlich nicht die schönste Begleiterscheinung dieser kleinen Vorsichtsmaßnahme. Aber was war ein bisschen Kiffer-Hängertum schon gegen die Rettung ganz Mittel- und Nordeuropas durch gemilderten Aggressionstrieb?
„Hmm …“, machte der Riese ein weiteres Mal, ließ die Gemüsebürste zur Abwechslung nach schräg rechts oben wandern und eine quälende Pause entstand. Mal ehrlich – für das weiseste Wesen der neun Welten war Mimir heute wirklich beschissen in Form! Entnervt begann Wotan in Gedanken die Zugverbindungen für eine möglichst baldige Rückreise durchzugehen.
„Wasn, wenn wa einfach die Tür zumachen, wenn er das nächste Mal Dope holen geht?“, nuschelte Donar, der die Stille nicht mehr ertrug.
„Also echt ma!“, protestierte Wotan. „Ich meine – gibt ja wohl noch sowas wie Gastrecht!“
„Gastrecht?!“ Mimirs Augen weiteten sich zu Tennisbällen vor Empörung. „Unsere Heiligtümer plattmachen, unsere Bräuche klauen, unsere Freunde abmetzeln – verhält sich so’n Gast, oder was?!“
„Aber wir können ihn doch nich’ dafür verantwortlich machen, wenn seine Leute sich schlecht benehmen!“
„Aber doch wohl dafür, dasser sie nich’ dran hindert!“