Ehrfürchtig platzierten die beiden die aus Menschenknochen gefertigte Trage auf der Erde. Langsam, so als wüsste das unförmige schwarze Bündel genau was es tat, stieg es einen Fingerbeit nach dem anderen aus den Tiefen des Erdinneren hervor und kam durch die Luft immer näher. Als es sich schließlich auf die Bahre herabsetzte, war die Hitze schon unerträglich geworden, sodass den Brüdern der unangenehme Geruch ihrer eigenen versengten Haare in die Nasen stieg. Selbst ihre tränenden Augen mussten sie zwischenzeitlich von dem fesselnden Anblick der Naturgewalten abwenden, da sie bereits unerträglich zu brennen begonnen hatten.
Doch im selben Moment, in dem das Wesen – wenn es denn eines war – die lederne Oberfläche der Trage berührte, schloss sich der Spalt im Erdinneren wieder, so als wäre er niemals da gewesen. Von Ruß geschwärzt lag der Leib, welcher entfernt an das mumifizierte Skelett eines großen Menschen erinnerte, reglos auf dem Boden, sodass sich nicht sagen ließ, ob überhaupt Leben in ihm steckte. Währenddessen sank die Temperatur innerhalb von wenigen Lidschlägen wieder spürbar ab. Die Dunstschwaden verzogen sich und ein frischer Wind kam auf, der den Geruch der Fäulnis in die Ferne trieb.
Alles, was noch daran erinnerte, dass hier soeben ein Wunder und zugleich eine Katastrophe stattgefunden hatten, war die schnee- und eisfreie Fläche, die schon in wenigen Tagen wieder so aussehen würde, wie all die Jahre zuvor. Und der Kadaver auf der Trage, der noch immer so heiß war, dass die Luft über ihm flimmerte. Die beiden Brüder, von ihrem Erfolg ganz siegestrunken, ergriffen jeweils ein Ende der Bahre und machten sich daran, so vorsichtig wie möglich, den Berg hinabzusteigen.
Wären sie mit offenen Augen durch die Welt gegangen, anstatt mit ihren Gedanken noch bei dem eben Erlebten zu verweilen, wäre ihnen aufgefallen, dass der Boden, auf dem der regungslose Mensch lag, nicht nur frei von Schnee war, sondern ihn auch noch immer kein einziger Tropfen Blut benetzte.
Der Mann im Wirtshaus
Es war ein schäbiger Raum. Ein miefiges Bett, ein morscher Tisch und ein Stuhl, der so abgenutzt war, dass sein angeschwärztes Holz den Eindruck erweckte, jeden Augenblick in sich selbst zusammenzufallen. Das kleine Fenster mit der eingestaubten Scheibe war die einzige Lichtquelle und versetzte das Schlafzimmer im oberen Stock des Wirtshauses in ein düsteres Halbdunkel – passend zu Skals Stimmung. Mit drei Schritten hatte der Mann den kleinen Raum durchquert und machte sich an der verrosteten Verriegelung des Rahmens zu schaffen.
»Lässt sich natürlich nicht öffnen«, seufzte er resigniert in das Zimmer hinein. Doch außer ihm selbst war niemand da, der zuhörte. Es war auch nicht so, dass Skal hier drin hätte lüften wollen, obwohl der Raum es durchaus nötig gehabt hätte, aber er musste sich bewegen. Er musste seine Finger mit irgendetwas beschäftigt halten, da sonst die düsteren Gedanken erneut von ihm Besitz zu ergreifen drohten.
Die Nacht würde der alte Soldat ohnehin unten im Schankraum verbringen. Mit einem selbstmitleidigen Lächeln dachte Skal daran, dass er sich so etwas noch vor einigen Wochen nicht einmal im Traum gewagt hätte. Ein Meuchelmörder – und nur Otairio allein wusste, wie viele hinter ihm her waren – hätte leichtes Spiel gehabt, ihm im Schlaf die Kehle durchzuschneiden. Aber das war ihm inzwischen egal. Skal war ein gebrochener Mann, der in seinem Leben schon oft am Abgrund gestanden hatte. Doch dieses Mal war es etwas anderes. Als Iatas hatte er auf ganzer Linie versagt.
Der Orden der Iatas, der seit über zweitausend Jahren zumeist Menschen, hin und wieder aber auch andere Geschöpfe der Zivilisierten Völker von Epsor zu Elitekriegern ausbildete, duldete kein Versagen. Söldner wie ihn gab es inzwischen überall. Manche verdingten sich in regelmäßigen Abständen als Glücksritter in einem der vielen Kriege, von denen es in letzter Zeit mehr gab als gute Ernten. Andere wiederum bereicherten sich als Kopfgeldjäger. Ein Beruf, der zwar kein regelmäßiges Gehalt versprach, doch wenn man mal einen von den großen Verbrechern aufgriff, dann hatte man immerhin für eine ganze Weile ausgesorgt. Viele, zumeist noch sehr junge und unerfahrene Kämpfer, suchten in letzter Zeit dieses Abenteuer. Alt oder wohlhabend wurden in diesem Geschäft jedoch nur die Allerwenigsten.
Und dann gab es noch jene von Skals Sorte. Er hatte bereits vor langer Zeit seine Ausbildung zum Iatas beendet. Doch in den letzten Jahren hatte sich viel in Epsor verändert und man musste kein Gelehrter sein, um zu erkennen, dass eine neue Zeit anbrechen würde. Die Welt der Menschen war im Umbruch.
Ungleich mehr Fehden brachen jetzt im Laufe eines Mondes aus als zuvor in einem Jahrzehnt. Jahrhunderte lange Feindschaften lösten sich zugunsten von Bündnissen auf, die geschmiedet wurden, um ehemalige Freunde zu überfallen und ihnen den Krieg zu erklären. Kinder wurden zu Soldaten, während Krieger seines Schlages immer seltener wurden. Die alten Werte zählten schon seit geraumer Zeit nichts mehr. Und Epsor sah sich inzwischen der Bedrohung vieler einzelner Grafschaften und Herzogtümer gegenüber, die kaum mehr Land besaßen als ein Großbauer. Doch mit Hilfe ihrer in aller Eile bewaffneten Armeen mehrten sie ihre Macht unaufhörlich und fochten untereinander um den verwaist stehenden Königsthron. Inzwischen zählte nur noch, wer mehr Nachschub an neuen jungen Männern hatte.
Zu meiner Zeit war das noch anders, dachte Skal sich im Stillen und lauschte auf die Stimmen unten in der Schankstube. Es lag bereits eine kleine Ewigkeit zurück, dennoch waren einige Teile der Erinnerung frisch und intensiv, da sie schon so oft vor seinem geistigen Augen abgelaufen waren. Vor allem in der letzten Zeit.
Neun Jahre war es mittlerweile her, dass Skal sich des Schicksals eines jungen Kriegers angenommen hatte, der die Grundausbildung zum Iatas beinahe schon mit Leichtigkeit gemeistert zu haben schien.
Cedryk war aus jeder Sicht ein wahrhaft talentierter junger Mann, in dem Skal mehr gesehen hatte, als nur einen Schüler. Für ihn war er wie ein Sohn gewesen. Ein Sohn, mit dem er die Welt bereist und beobachtet hatte, wie er an seinen Aufgaben wuchs; wie er stetig reifer wurde und ihm schlussendlich sogar ebenbürtig war. Während ihrer vielen Abenteuer hatten sie sich nicht nur Freunde gemacht, und waren dem Tod auch mehr als einmal nur knapp von der Schippe gesprungen. Aber obwohl Krieg und Zerstörung ihre dunklen Schatten auf die beiden Freunde geworfen hatten, war es dennoch die schönste Zeit, die Skal jemals erlebt hatte. Viel mehr als die Erinnerungen daran, war ihm davon nun jedoch nicht mehr geblieben. Denn der Schüler, welchen man ihm guten Gewissens anvertraut hatte, war tot. Cedryk war durch Skals Verschulden gestorben. Noch immer sah er vor sich das Bild des blutbesudelten Körpers und den anklagenden Blick in seinen toten, kalten Augen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und der alte Krieger wurde urplötzlich aus seinen trüben Gedanken gerissen. Noch vor Kurzem wäre Skals natürlicher Reflex der Griff zum Schwert gewesen, wenn ein Unbekannter die Tür öffnete, doch er hatte sich aufgegeben und ließ inzwischen jede Schutzmaßnahme fahren. Sein Leben war ihm nichts mehr wert.
»Mein Herr ... mein Herr.« Der dicke Wirt war ins Zimmer getreten und versuchte nun umsichtig auf sich aufmerksam zu machen. »Mein Herr, Euer Essen ist fertig, wünscht Ihr hier zu speisen oder ...«
»Nein, lass es unten. Ich komme sofort«, meinte Skal tonlos, nahm seinen Rucksack, das Schwert und den Mantel und folgte dem Wirt aus dem dunklen Raum. Er hatte nicht vor, noch einmal in das Zimmer zurückzukehren. Skal brauchte jetzt Gesellschaft, auch wenn sie nur aus dem Gesindel bestand, welches sich um diese Zeit in einem so abgelegenen Gasthaus herumtrieb.
Im Schankraum angekommen, der vor einer halben Stunde noch fast leer gewesen war, tummelten sich jetzt, außer Skal, dem Wirt und seiner Kellnerin, erstaunlich viele Leute. Eine Handvoll zerlumpter Söldner aus der nördlichen Tundra saßen nahe der Tür und spielten mit unbemalten, grobgeschnitzten Würfeln an einem der Ecktische. In beinahe schon regelmäßigen Abständen johlten sie immer wieder auf, wenn ihre Münzen reihum den Besitzer wechselten. Einer von ihnen, ein alter Haudegen mit warzigem Gesicht, und einer ledernen Augenklappe, blickte kurz zu Skal auf, als dieser die Treppe herabschritt. Doch schien er seinen braunen Mantel nicht als die Auszeichnung und Uniform zu erkennen, welche