Felix schluckt seinen Bissen hinunter und reckt das Kinn. „Wir werden uns der WERTschen Wohltaten würdig erweisen“, verkündet er. „Wir werden Schmieröl trinken, um zu Ehren der Firma die WERT-Melodie mehrstimmig zu singen.“ Felix imitiert die schleimige Stimme des Senators und seine einstudierten Gesten so treffend, dass man glaubt, Sark persönlich säße mit uns am Tisch.
Mila kichert hinter vorgehaltener Hand. Ihr Stirnrunzeln ist kleinen Lachfältchen gewichen, als sie Felix bewundernd von der Seite her anschaut. Das spornt ihn zu weiteren Parodien an. Er beißt die Zähne zusammen und spannt die Muskeln an, bis die Sehnen aus seinem Hals hervortreten. „Dann rasieren wir uns die Haare ab“, ruft er. „Wir rennen mit dem Tarmoschädel durch die Wand. Durch. Die. Wand.“
Mila hält sich den Mund zu, damit sie nicht laut losprustet.
„Wir. Sind. Keine. Schwächlinge!“, stößt Felix hervor.
„Schsch, nicht so laut“, ermahne ich ihn zischend, halte mir den Finger an den Mund und blicke mich besorgt um. Wir sind hier nicht allein. An unseren Tisch wollte sich zwar niemand dazusetzen, aber Felix brüllt, als wäre der ganze Speisesaal leer. „Pass bloß auf, dass uns keiner hört“, warne ich ihn.
„Ach ja, stimmt“, erwidert Felix nun leiser. „Unsere Trainer haben ihre Riesenohren überall, allen voran dieser Kohen. Wie der sich gestern aufgespielt hat! Als ob er einen Stock im Hintern hätte.“
Der steht tatsächlich an der Tür. Jetzt ist er wieder ganz der Ausbilder mit dem silbernen WERT-Emblem auf der breiten Brust. Aber für ein kleines Lächeln in meine Richtung reicht es doch. „Der Trainingsbeginn für Sektorengruppe A wurde verschoben, und zwar auf jetzt sofort. In fünf Minuten sehen wir uns im Demo-Raum B“, verkündet er, dreht sich um und verlässt den Saal.
Schnell springen Mila, Felix und ich auf und eilen zu der angesetzten Übungsstunde. Als wir in unserem Trainingsraum ankommen, wartet Kohen schon auf uns. So wie er auf dem Podest steht, in dem nachtblauen Overall mit den glänzenden Einsätzen und den schwarzen Stiefeln, sieht er ganz anders aus als vorhin beim Klettern, strenger, distanzierter – richtig abweisend.
„Wir beginnen mit der Einführung in das Nomen-Implantat“, erklärt er, nachdem sich alle versammelt haben. „Ihr könnt die OP-Pflaster nun abziehen.“
Ich taste nach der ungewohnten Wölbung in meinem Nacken. Unter dem glatten Kunststoffverband spüre ich das harte Dreiecksimplantat. Ich drücke vorsichtig darauf und fühle einen stechenden Schmerz.
Kohen hält uns einen Eimer für die Pflaster entgegen. Ich wechsle einen zweifelnden Blick mit Felix. Auffordernd hebt Kohen die Augenbrauen.
Also gut. Wir sind schließlich keine Weicheier.
Ich zupfe mit den Fingernägeln an dem klebrigen Rand meines Armpflasters. Verdammt, tut das weh! Es fühlt sich an, als würde ich meine eigene Haut langsam abziehen. Doch Kohens Blick ruht immer noch auf mir. Also beiße ich die Zähne zusammen und reiße das Pflaster mit einem schnellen Ruck ab. Tränen schießen mir in die Augen, aber der Schmerz ebbt schnell ab. In meinem Armrücken steckt ein glänzendes Schaltfeld, umgeben von empfindlicher zartrosa Haut. Ich rupfe mir auch das Nackenpflaster ab und werfe es in Kohens Eimer. Anerkennend nickt er.
Ich freue mich und merke erst nach einiger Zeit, dass ich über das ganze Gesicht grinse. Schnell senke ich den Kopf zu meinem neuen Nomen-Schaltfeld im Handrücken.
Nachdem auch die anderen pflasterfrei sind, hebt Kohen die Stimme. „Die erste Grundfunktion ist das tägliche Gesundheits-Update. Bestimmt fragt ihr euch, warum auf eurem Armmodul seit heute Morgen ein blaues Kreuz leuchtet – tippt doch mal drauf.“
Sowie ich das Kreuz berühre, erscheinen über meiner linken Hand eine Uhr, ein Apfel, eine Spritze und ein Herz. Überrascht mache ich einen Satz nach hinten, wobei die schimmernden Symbole mithüpfen. Mein Armmodul blinkt. Anscheinend projiziert es die dreidimensionalen Hologramme in die Luft.
„Das sind eure Gesundheitsdaten“, erläutert Kohen. „Blutdruck und Blutzuckerspiegel, Vitaminversorgung und ein paar Feinheiten, die ihr fürs Erste übergehen könnt. Das Herzhologramm zeigt euren Puls.“
Tatsächlich. Die Miniatur über meiner Handfläche hüpft in rhythmischer Aufregung auf und ab. Felix grinst und greift nach meinem Herzchen. Das springt vor seiner ungestümen Bewegung weg und verschwindet. An seiner Stelle erscheinen medizinische Daten zu meiner Herztätigkeit. Verblüfft starrt Felix auf meine Hand. Als sich unsere Blicke treffen, pulsiert sein Herzhologramm schneller. Mit einem verschämten Grinsen wischt er es beiseite.
Mila hat uns mit zusammengekniffenen Augen zugesehen. Auch ihr Leuchtherz klopft auffallend hektisch. Rasch zieht sie den Ärmel ihres Trainingsoveralls über ihr Armimplantat.
Bevor ich fragen kann, was mit ihr los ist, fährt Kohen bereits mit seiner Einführung fort. Als Nächstes widmet er sich der Ortungsfunktion unserer Nomen. Dazu klipst er sich eine Verstärkermanschette ans Handgelenk, die sein Hologramm auf zwei Meter Durchmesser vergrößert und den Ton für alle hörbar macht. Mit schnellen Wischbewegungen holt er eine dreidimensionale Darstellung des Adoptenzentrums hervor und zoomt in den Demo-Raum, wo wir als kleine Figürchen zu erkennen sind.
Felix reißt die Arme hoch und winkt. Sein holografisches Abbild grüßt zurück. Er lacht begeistert, während ich mit den Zähnen knirsche. Felix ist wohl noch nicht klar, was das bedeutet: Wir stehen unter ständiger Beobachtung. Kohen sieht ganz genau, was wir tun. Ob wir schlafen, essen oder aufs Klo gehen: Er ist immer dabei. Und sicherlich nicht nur er. Bestimmt hat Tarmos Nomen die gleiche Funktion.
„Das ist ja die totale Überwachung!“, stoße ich hervor, bevor ich weiß, was ich sage.
Kohen hält inne und schaut mich ernst an. „Keine Sorge, WERT achtet selbstverständlich auf die Intimsphäre der Adopten. So deutlich sind die Hologramme nur in öffentlichen Räumen zu sehen. Ansonsten sind sie verpixelt.“
Klar. Selbstredend. Und warum werden meine Ohren dann heiß? Weil das Bullshit ist. Ich presse die Lippen zusammen, damit ich nicht mit wüsten Beschimpfungen um mich werfe. Kohen wippt unruhig auf und ab. Mein Trotz irritiert ihn sichtlich. Immerhin.
Olya hat andere Sorgen. „Ich kann Tarmo nirgends entdecken. Wo ist er auf dem Display?“
„Tarmo kann ich nicht anzeigen, weil sein Nomen eine höhere Statusgruppe hat als meines. Nur die mir zugeordneten Träger niedrigerer Nomen-Gruppen sind sichtbar“, erklärt Kohen. „Aber nun kommen wir zur Nachrichten-Funktion. Dabei zeichnet das Nomen wie eine innere Kamera eure Stimme und eure Bewegungen auf. Probiert das mal.“
Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Ich drücke den Aufnahmeknopf und gebe ein paar sinnfreie Sätze von mir. Während ich die Nachricht abspiele, leuchtet eine zwanzig Zentimeter große Emony auf meiner Handfläche. Ich ärgere mich über meine unordentliche Frisur und die ungewohnt hohle, fast blecherne Stimme.
Olya dagegen dreht sich mit eleganten Tanzschritten und schickt die Aufnahme an alle. Die Jungs rufen sie sofort ab, woraufhin sich eine zart schimmernde Miniatur-Olya auf ihren Handflächen wiegt. Sie starren die kleine Lichtgestalt mit offenen Mündern an. Fehlt nur noch, dass sie zu sabbern anfangen. Dart holt sich Olyas Oberkörper in Originalgröße aus dem Verstärker, grinst und befummelt das Hologramm. Die echte Olya kichert, da er ins Leere greift.
„Das reicht“, beschließt Kohen. „Das Nomen ist kein Spielzeug. Es bestimmt ab sofort euer Leben. Die WERT-Gesellschaft hält damit Kontakt zu den Adopten. Nachrichten aus der Zentrale sind daher umgehend anzunehmen.“
„Und wenn ich nicht rangehe?“, fragt Felix leicht trotzig.
„Du wirst rangehen.“
„Werde ich nicht.“
Kohen ruft in seinem Hologramm eine kleine rote Sprechblase auf und zieht sie auf den Miniatur-Felix. Bei dem großen Gegenstück