Die Finsternis beobachtete sie.
Etwas lauerte in den Tiefen der Andachtshalle, wartend, hungernd, bis sie den ersten Schritt in den Mittelgang hinaus tun würde, um sich auf sie zu stürzen.
»Herr«, flüsterte sie unhörbar, ohne den Blick von der Statue zu nehmen, »wache über mich!«
Wie aus dem Nichts schoss eine Hand auf sie zu und umklammerte ihren Arm. Ilmra schrie auf, bevor sie sich zurückhalten konnte, und sprang zur Seite; klappernd fiel ihr die Wachstafel aus der Hand. Ihr Angreifer taumelte, von ihrer Reaktion überrascht, und prallte gegen sie. Ilmra entwand ihm ihren Arm und sammelte Kraft, um ihn beiseite zu stoßen, einen Augenblick, bevor sie das Gesicht erkannte.
Es war Elouané.
Ohne nachzudenken legte Ilmra ihr die Hand auf den Mund und drückte sie gegen die nächstbeste Säule.
»Sei still!«, befahl sie, denn die Novizin machte Anstalten, sich von ihr loszukämpfen. »Sei still und hör mir zu! Es sind Leute da draußen, Männer in Kapuzen, die in den Tempelbezirk eingedrungen sind! Sie haben die Türwächterinnen angegriffen und die Novizinnen. Ich weiß nicht, was sie uns antun wollen, aber sie jagen auch mich! Für den Moment haben sie mich verloren, aber es wird nicht lange dauern, bis sie hierherkommen. Wir müssen fort von hier! Zu den Ställen und in die nächste Stadt, Hilfe holen! Du musst mir jetzt gehorchen und darfst keine Geräusche von dir geben, hast du mich verstanden?«
Das Mädchen nickte mit riesigen Augen. Ilmra nahm ihre Hand weg und winkte Elouané, ihr zu folgen. »Hier entlang.«
So leise wie möglich huschten sie den Mittelgang entlang und zur Tür. Das Tor hatte schon immer geknarrt, aber als sie es in diesem Moment aufzog, hatte Ilmra das Gefühl, der ganze Tempel würde beben vor Lärm. Vorsichtig spähte sie nach draußen; der Hof lag verlassen vor ihr, die Hoftür hing zerstört und schief in ihren Angeln. Eine umgestürzte Laterne lag dort, wo eine der Türwächterinnen zu Boden gestoßen worden war. Aus dem Wohntrakt zu ihrer Rechten waren Schreie und Lärm zu hören, und unruhiges Licht flackerte durch die Fenster.
›Der Schlaftrakt der Ordensschwestern‹, dachte Ilmra, und ihr Herz verkrampfte sich. ›Sie treiben sie zusammen wie Vieh.‹
Sie nahm Elouané bei der Hand und zog sie hinter sich her, fort von dem Lärm, dorthin, wo in einem ausgebauten Schuppen die Ackergäule des Ordens standen. Die Tiere wirkten aufgeschreckt und nervös, als sie eintraten, als wüssten sie, dass draußen etwas vor sich ging, das gegen jedes göttliche Gesetz verstieß.
»Erste Schwester«, wisperte Elouané, während Ilmra mit zitternden Fingern eines der Pferde sattelte, »Erste Schwester, wer sind diese Männer?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Ilmra, immer mit einem Ohr lauschend, ob sich nicht auf einmal Schritte näherten. »Raubritter vielleicht, oder Landstreicher. Vielleicht erhoffen sie sich Gold in unserem Tempel.«
»Ich habe sie durch ein Tempelfenster gesehen«, erwiderte Elouané, die graublauen Augen vor Angst geweitet. »Sie tragen schwarz wie die Soldaten aus dem Westland. Sie sind wie Fledermäuse und machen keine Geräusche beim Gehen. Als wären sie keine Menschen.«
Instinktiv wollte Ilmra ihr wütend über den Mund fahren, doch bevor sie Luft holen konnte, ertönte von draußen ein lautes Klirren und ein spitzer Schrei, dann ein dumpfes, Übelkeit erregendes Geräusch, als ein Körper zu Boden fiel.
Elouané fuhr zur Stalltür herum, die Hände an den Mund gepresst. »Jemand ist aus dem Fenster gefallen! Eine Schwester ist aus dem Fenster gefallen!«
Das Mädchen machte Anstalten, auf den Hof zu laufen, doch Ilmra hielt sie fest. »Steig auf das Pferd!«, befahl sie und drückte ihr den Steigbügel in die Hände. In ihrem Hinterkopf begann unter all der Angst und Besorgnis eine Erkenntnis zu dämmern, die, je länger sie dastand und Elouané ansah, klarer und unabwendbarer wurde. Als das Mädchen oben saß und sich ihr mit ängstlichem Gesicht zuwandte, legte Ilmra die Hand auf die Zügel. »Hör mir jetzt genau zu: Sobald du mich rufen hörst, reitest du los, so schnell du kannst, ohne dich umzudrehen! Reite durch die Magdpforte zur Stadt und alarmiere die Wachen! Halt nicht an, ehe du dort bist, hast du mich verstanden?«
»Aber …« Elouané sah sie an, verwirrt, aber mit beginnendem Verständnis dafür, was Ilmra vorhatte.
»Keine Widerrede! Du wartest hier, bis du mein Zeichen hörst, dann verschwindest du! Ist das klar?«
Elouané zögerte; ihre Wangen wurden aschfahl und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Erste Schwester …«
Ilmra packte ihre Handgelenke. »Wenn dir der Lichte und seine Kinder etwas bedeuten, dann gehorchst du mir! Hast du mich verstanden?«
Mit zitternden Lippen nickte Elouané.
»Gut.« Ilmra ließ das Mädchen los. »Möge der Lichte über dich wachen. Warte hier.«
Sie straffte die Schultern und huschte aus dem Stall, vorsichtig darauf bedacht, im Schatten des Tempels zu bleiben; mittlerweile war der Innenhof hell erleuchtet von Fackeln, und auch durch die Fenster im Schwesternwohntrakt auf der anderen Seite des Hofes strömte täuschend warmes Licht. Ilmra glaubte, den Umriss einer Frau zu erkennen, die unter einem zerbrochenen Fenster am Boden lag, viel zu weit weg vom Haus, um auf natürliche Weise gefallen zu sein. Einen Herzschlag, bevor sie hinter der Vortreppe zum Tempel in Deckung ging, sah sie weißes Haar unter dem Kopftuch der Regungslosen aufschimmern.
Mutter Lenidar.
Ilmra biss sich auf die Lippen und stahl sich vorsichtig ein Stück weiter vor, um den Innenhof im Blick zu haben: So wie es aussah, waren die schwarzgekleideten Männer damit beschäftigt, ihre Ordensschwestern zusammenzutreiben; die meisten von ihnen wirkten verängstigt, manchen waren die Kleider zerrissen worden, aber abgesehen von Lenidar, die noch immer reglos im Staub lag, schien keine ernsthaft verletzt. Ilmra zog den Kopf zurück und dachte rasch nach: Sie musste versuchen, die Männer auf sich aufmerksam zu machen, aber gleichzeitig darauf achten, dass sie nicht zu früh bemerkt wurde, um die Richtung, aus der sie kam, nicht preiszugeben. Sie warf einen Blick zum Eingang des Tempels, der zu ihrer Rechten über ihr aufragte; offensichtlich waren die Fremden mittlerweile auch dort eingedrungen, denn die Türflügel standen sperrangelweit offen. Sie waren nicht zerstört worden wie diejenigen in den Wohngebäuden, fiel Ilmra auf; vielleicht besaßen diese Frevler doch noch so etwas wie Gottesfurcht. Mit einem stummen Gebet auf den Lippen sprang sie auf und hechtete auf die Tempeltreppe, dann rannte sie auf der anderen Seite die Stufen wieder hinunter und in Richtung Wohntrakt der Novizinnen. Es dauerte keine drei Herzschläge, bis sie sie sahen, da war sich Ilmra sicher; sie hörte das überraschte Aufschreien der Mädchen und Frauen, doch keiner der Männer rief oder brüllte, dass man sie einfangen sollte, wie sie es erwartet hätte. Auch die hastigen Schritte hinter ihr blieben aus; stattdessen spürte sie einen plötzlichen, unerwarteten Ruck in der Magengegend, und als sie das nächste Mal klar denken konnte, lag sie alle Viere von sich gestreckt auf dem Boden. Ihre Knie ächzten vor Schmerz und von ihrer brennenden Stirn tropfte etwas Heißes. Im nächsten Moment schon packten sie grobe Hände und zogen sie auf die Füße; es tat weh, aber nicht so sehr, dass es den lauten, lang anhaltenden Schrei gerechtfertigt hätte, den sie ausstieß und der auch nicht verstummte, als der Mann in Schwarz sie über den Hof und zu den anderen Ordensmitgliedern schleifte.
Ihr Häscher stieß sie grob in die Knie, ohne sie loszulassen. Er ging vor ihr in die Hocke, sodass sie sein Gesicht sehen konnte: Es war ein bartloses Gesicht, dessen Alter unmöglich zu bestimmen war. Der Mann sah nicht wütend aus, tatsächlich verzog er keine Miene, als er sie mit ebenso ausdrucksloser Stimme fragte: »Möchtest du einen triftigen Grund zum Schreien haben?«
Ilmra antwortete nicht, verstummte aber. Der Mann schien zufrieden und stand auf, um sich