Trump hat gemäß der Fact-Checker-Website der Washington Post seit dem Beginn seiner Präsidentschaft bis zum zum 9. Juli 2020, also in 1267 Tagen, 20’055 Mal öffentlich gelogen oder Falschinformationen verbreitet. Das sind sechzehn »alternative Fakten« pro Tag. Trump lügt nicht gelegentlich, sondern prinzipiell. Hannah Arendt hat in ihrer Schrift »Wahrheit und Politik« die zentrale Erkenntnis formuliert: Wenn alles nur noch Meinung ist und es keine gemeinsam festgestellten Tatsachen mehr gibt, wird Demokratie unmöglich. Wenn es legitim ist, zu sagen, die Erde sei eine Scheibe, die Juden würden die Welt beherrschen, Muslime seien verantwortlich für Corona oder der Klimawandel eine Erfindung der Chinesen, dann wird eine öffentliche Debatte unmöglich.
Keine Frage: Leute wie Chelsea Manning, Edward Snowden oder Julian Assange werden nicht erst seit Trump verfolgt und müssen erleben, wie ihre Gesundheit und ihr Leben angegriffen werden, weil sie Wahrheiten ans Licht gebracht haben, die die Mächtigen bloßstellen. Ihr Mut, dies trotz der drohenden Repressalien zu tun, ist von großem Wert. Wenn aber erst einmal die Relevanz einer klaren Unterscheidung von Lüge und Fakten vom Tisch ist, dann wird damit auch jede Bemühung um Wahrheitsfindung belanglos, dann läuft das Engagement von Manning, Snowden oder Assange ins Leere. Nur solange anerkannt wird, dass es Lügen gibt, können diese aufgedeckt werden. Nur solange anerkannt wird, dass es Lügen gibt, kann verlangt werden, dass die Lügenden ihre politischen Ämter niederlegen müssen und sanktioniert werden. Gibt es hingegen keine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge mehr, dann bleibt nur noch das »Recht« des Stärkeren übrig. Dann gilt nur noch das, was durchgesetzt werden kann. Und dann wird Gewalt zum alltäglich normalen politischen Mittel.
Da passt es leider genau ins Bild, dass die Trump-Regierung reihenweise aus internationalen Vertragswerken und Organisationen aussteigt, etwa aus dem Pariser Klimaabkommen, aus der Weltgesundheitsorganisation WHO, aus dem Open-Skies-Abkommen, aus dem Atomabkommen mit Iran, aus dem Vertrag über atomare Mittelstreckenraketen. Dann hat dies nichts mit allfälligen Versuchen zu tun, die Institutionen zu verbessern. Vielmehr ist es eine unverstellte Absage an jede Bemühung, die globalen Herausforderungen auf der Basis von Fakten zu benennen und kooperativ anzugehen. Entsprechend ist es auch wenig überraschend, dass das Bulletin of the Atomic Scientists seine berühmte Weltuntergangsuhr Ende Januar 2020 auf 23:58:20 gesetzt hat, also 100 Sekunden vor zwölf. Seit Beginn der Zählung 1947 war die Welt nach Einschätzung der beteiligten Wissenschaftler*innen noch nie so nahe an einer unkontrollierbaren, gewalttätigen Katastrophe.
PERSPEKTIVE CARE-GESELLSCHAFT
Eine der größten Widerstandsbewegungen der letzten Jahrzehnte wie auch der Gegenwart ist die globale Frauenbewegung. Die feministische Kritik an den Geschlechterhierarchien hat den Weg geebnet für bedeutsame Fortschritte im Bildungswesen, im Erwerbsleben, im Familienrecht, in der Politik und bezüglich der Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs. Frauen haben heute im weltweiten Schnitt zum Bildungsniveau der Männer aufgeschlossen. Über 130 Staaten bekennen sich gesetzlich zum Ziel der Geschlechtergerechtigkeit.
Dennoch: Frauen verfügen immer noch über deutlich weniger Einkommen und weniger Vermögen und sind stärker armutsgefährdet. Zum Beispiel liegen die Altersrenten der Frauen in der Schweiz um 37 Prozent unter denjenigen der Männer. Sexuelle, physische und psychische Gewalt und sexistische Diskriminierung sind weiterhin an der Tagesordnung. Weltweit sind erst ein Viertel aller Parlamentsabgeordneten Frauen. Und die Corona-Krise hat deutlich gemacht, wie groß die Diskrepanz ist zwischen der gesellschaftlichen Bedeutung der vorwiegend von Frauen erbrachten Sorgearbeit (etwa in der Pflege und Betreuung) und ihrer gesellschaftlichen Anerkennung, zum Beispiel in Form einer angemessenen Entlohnung. Die Gleichberechtigung ist stecken geblieben, mehr noch: Offen antifeministische Kräfte finden verstärkt Zulauf. Die feministische Bewegung hat darauf reagiert und in den letzten Jahren wieder an Schwung aufgenommen. Das hat am 14. Juni 2019 in die größte Mobilisierung der Schweizer Geschichte gemündet, als 500’000 Personen am Frauenstreik teilgenommen haben.
Auch andere Bewegungen, die auf grundlegende Transformationen abzielen, erleben immer wieder kraftvolle Aufschwünge, gerade auch in neuester Zeit. Die brutale Tötung von George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis durch einen weißen Polizisten hat zu einer Welle von Kundgebungen gegen Rassismus und Polizeigewalt geführt – in über 140 Städten der USA und an vielen weiteren Orten auf der ganzen Welt.
2019 ist es in vielen Ländern zu sozialen und demokratischen Revolten gekommen, so in Hongkong, Chile, Algerien, Iran, im Irak, in Libanon, im Sudan, in Ecuador und Frankreich. Manche dieser Bewegungen konnten bedeutsame Erfolge verzeichnen. Und 2019 war das Jahr, in dem sich Millionen von Jugendlichen weltweit zur Klimastreikbewegung formiert haben. Diese Bewegung hat innerhalb von wenigen Wochen das umweltpolitische Koordinatensystem erheblich verschoben: Klimapolitik ist zum Topthema geworden und wird dies auch bleiben. Der entschlossene Kampf gegen die Klimaerhitzung ist mit Nachdruck eingefordert. Die Klimajugend wird sich nicht hinters Licht führen und auch nicht mit halbherzigen Maßnahmen abspeisen lassen.
Deshalb muss jetzt eine Wende kommen, und sie muss umfassend sein, um den Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, ernsthaft zu begegnen. Ein paar kleinere Retuschen werden nicht ausreichen. Es geht um nichts weniger als um eine revolutionäre Wende, die an den Wurzeln unserer Gesellschaft anpackt. Eine radikale Wende, die gleichzeitig pragmatischer nicht sein könnte. Sie fordert nichts anderes ein, als dass die Menschen und ihre Bedürfnisse ins Zentrum gesellschaftlicher Bemühungen gestellt werden.
Diese Überzeugung teilen wir mit vielen Menschen. In der Schweiz hat eine Gruppe rund um den Thinktank Denknetz im Mai 2020 das Plädoyer »Perspektive Care-Gesellschaft« lanciert.11 Die Autor*innen des Texts stellen fest, dass die Corona-Krise den Blick auf eine verwundete Welt geschärft hat, »die gleichermaßen globalisiert und zerrissen ist«. Gleichzeitig werden zur Bewältigung der Corona-Krise auch enorme materielle Ressourcen und soziale Energien mobilisiert. »Solidarität und Kooperation erhalten eine Bedeutung, wie sie in der neueren Geschichte beispiellos ist. Gesellschaften und Staaten erweisen sich in einer Weise als handlungs- und wandlungsfähig, die im Umgang mit anderen Krisen neue Perspektiven eröffnet. Diese Perspektiven lassen sich aber nur mit einem entschlossenen politischen Richtungswechsel verwirklichen.« Dieser muss in einen neuen Gesellschaftsvertrag münden, der sich an den Prinzipien von Care, Kooperation, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit orientiert. Dazu muss eine massive Aufwertung der Care-Arbeit mit einer radikal verstärkten Sorgsamkeit im Umgang mit der Natur und mit den zivilisatorischen Errungenschaften verbunden werden. Die Service-public-Revolution erfasst lange nicht alle Dimensionen einer solchen Care-Gesellschaft, aber sie konkretisiert für viele Bereiche, was geändert werden kann und muss. Darauf gehen wir in Teil III genauer ein. Wir hoffen, mit unserem Buch zur Stärkung dieser Perspektive beizutragen, und wir hoffen, dass die vielen kraftvollen Bewegungen der Gegenwart zusammen mit den sie unterstützenden Organisationen und Parteien eine gemeinsame Dynamik entwickeln und damit wieder Türen öffnen in eine lebenswerte Zukunft.
Wer will, dass die Welt kapitalistisch bleibt, will nicht, dass sie bleibt.
FREI NACH ERICH FRIED
There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.
WARREN BUFFET, INVESTOR-IKONE UND DRITTREICHSTER MANN DER WELT IM INTERVIEW MIT BEN STEIN IN DER NEW YORK TIMES, 26. NOVEMBER 2006
Im Folgenden geht es uns darum, zentrale Konzepte für das Verständnis