Zur Untermauerung dieses Menschenbilds sind seit den 1960er Jahren etliche psychologische Tests angeführt worden. Einer der bekanntesten ist der Marshmallow-Test, auf den wir hier eingehen. Der Test wurde spätestens Mitte der 1990er Jahre dank mehrerer Bücher von Entwicklungspsycholog*innen popularisiert und wird auch heute in politischen Diskussionen noch immer als Beispiel angeführt.
Der Marshmallow-Test wurde erstmals Ende der 1960er Jahre vom österreichisch-amerikanischen Psychologen Walter Mischel durchgeführt. Der Test funktioniert so: Kinder werden in ein Zimmer gebeten. Auf dem Tisch liegt ein Marshmallow. Die Kinder werden von einer Betreuungsperson begrüßt, die ihnen sagt, dass sie das Zimmer nochmals verlassen müsse, aber gleich zurückkomme. Die Betreuungsperson erklärt weiter: Wenn die Kinder auf das Vernaschen des Marshmallows verzichten, bis die Person zurückgehrt sei, würden sie danach als Belohnung einen zweiten Marshmallow erhalten. Im Anschluss an den Test wurde über Jahre die bildungsmäßige und berufliche Laufbahn der Kinder verfolgt. Die Ergebnisse des vielfach wiederholten Tests schienen lange eindeutig: Kinder, die auf den zweiten Marshmallow warten, sind im Leben erfolgreicher. Dank der Fähigkeit zur Selbstbeherrschung können sie ökonomische Kosten-Nutzen-Kalküle anstellen und ihren Erfolg optimieren.
In den letzten Jahren ist allerdings deutlich geworden, dass der Test ganz andere Zusammenhänge aufdeckt, als er vorgibt. Eine Gruppe von Forscher*innen der Universitäten von Kalifornien und New York hat den Test mit einer großen Anzahl von Proband*innen reproduziert und dabei herausgefunden, dass der statistische Zusammenhang zwischen Testergebnissen und beruflichem Erfolg verschwindet, wenn man die familiären Hintergründe der Proband*innen einbezieht, also ihre Klassen- und Milieuzugehörigkeit. Kinder aus gut situierten und bildungsnahen Familien haben bessere Schul- und Berufschancen, egal ob sie das Marshmallow sofort essen oder nicht. Kinder aus weniger vermögenden Arbeiter*innenfamilien haben schlechtere Chancen, egal ob sie sich beherrschen können oder nicht. Eine weitere Studie der Universität Rochester im Bundesstaat New York ist ebenso aufschlussreich. Sie hat die Kinder vor dem Marshmallow-Test an einem Kunstprojekt teilnehmen lassen. Eine Gruppe wurde von Betreuer*innen angeleitet, die systematisch Dinge versprachen, sie anschließend jedoch nicht einhielten. Die Betreuer*innen in der anderen Gruppe hingegen hielten ihre Versprechen. Das eigentlich wenig überraschende Resultat: Kinder, die gelernt hatten, dass sich Vertrauen lohnt, warteten mit dem Marshmallow-Verzehr. Kinder, die von ihren Betreuer*innen systematisch enttäuscht worden waren, warteten deutlich weniger oft.
Fazit: Das Erklärungsmuster des Homo oeconomicus funktioniert offenbar nur genau dann, wenn wir den Menschen von all dem »befreien«, was ihn als Menschen ausmacht: von seiner Geschichte, von gesellschaftlichen Strukturen, von der Erfahrung von Solidarität. Wenn wir ihn vereinzeln und sein Vertrauen in die Gemeinschaft untergraben, dann verhält er sich egoistisch.
Der niederländische Historiker und Autor Rutger Bregman zeigt in seinem jüngst erschienenen Buch Im Grunde gut, zu welch falschen Schlüssen uns die »Fassadentheorie der Zivilisation« führen kann. Damit ist jene Vorstellung gemeint, gemäß der der Mensch im Grunde schlecht und egoistisch sei und schon der kleinste Riss in der Fassade der Zivilisation reiche, um seine böse Natur durchbrechen zu lassen. Bregman führt das Beispiel des Hurrikans »Katrina« an, der am 29. August 2005 die Stadt New Orleans in weiten Teilen zerstört hat. Die Medienberichte überschlugen sich in den Tagen danach mit vermeintlichen Berichten über Anarchie und totales Chaos, die angeblich in der Stadt herrschten. Die Angst davor führte dazu, dass sich viele Hilfsorganisationen erst Tage später überhaupt in die zerstörten Quartiere trauten. Wissenschaftler*innen des Disaster Research Center der Universität Delware haben im Nachhinein nun untersucht, was in New Orleans wirklich geschehen ist. Sie fanden heraus, dass genau das Gegenteil von dem passierte, was die Medien suggeriert hatten. Tatsächlich ereigneten sich nur wenige Gewalttaten. Die meisten »Plünderungen« wurden von Gruppen von Menschen unternommen, die sich gegenseitig dabei halfen, Nahrungsmittel zu finden – teilweise mit Unterstützung der örtlichen Polizei. Diese Beobachtungen decken sich mit rund 700 Studien zu den verschiedensten Katastrophen, die das Disaster Research Center seit 1963 zusammengetragen hat und die immer zum gleichen Schluss kommen: dass nämlich, »im Gegensatz zu den Darstellungen in den meisten Spielfilmen, nach einer Katastrophe nie die totale Panik ausbricht und auch keine Welle des Egoismus aufbrandet. Die Zahl der Verbrechen – Mord, Diebstahl, Vergewaltigungen – nimmt in der Regel ab.« Bregman zitiert einen der Forscher: »Und egal, wie viel geplündert wird, es verblasst immer im Vergleich zu dem weitverbreiteten Altruismus, der zu einem großzügigen und umfangreichen Geben und Teilen von Gütern und Diensten führt.«
Doch diese wissenschaftlichen Erkenntnisse werden kaum zur Kenntnis genommen, und die Fassadentheorie wird immer und immer wieder bemüht. So etwa auch in den politischen Diskussionen rund um die Sozialversicherungen und Sozialwerke, in denen unterstellt wird, diese würden von »Scheininvaliden« in großem Stil geplündert. Damit wird erreicht, dass sich die Debatte fast nur noch um die Verhinderung eines allgegenwärtig vermuteten Missbrauchs dreht, anstatt dass wirklich über die Bedürfnisse, von Arbeitslosigkeit, Armut oder Behinderung Betroffenen gesprochen wird.
In einer Hinsicht allerdings spricht die US-amerikanische Autorin Rebecca Solnit in ihrem Buch A Paradise built in Hell der Fassadentheorie einen realen Hintergrund zu:10 Die Vorstellung vom triebhaft bösen, egoistischen Menschen hinter der Zivilisationsfassade sei eine Projektion der Herrschenden, die dabei ihr eigenes, alltägliches, oft eben rücksichtsloses und egoistisches Verhalten fälschlicherweise auf die gesamte Bevölkerung übertragen. Es ist also große Vorsicht geboten, wenn in politischen Diskussionen die vermeintliche »Natur des Menschen« angeführt wird, die beweise, warum die Verhältnisse so sind, wie sie sind, und warum sie nicht wirklich geändert werden könnten. Klar ist einzig, dass ein solcher Glaube all jenen zupasskommt, die an den Schalthebeln der Macht sitzen und diese Macht nicht preisgeben wollen. Es sind die »Könige und Adligen« unserer Zeit.
TRUMPUTINISMUS – DIE NATIONALISTISCHE SACKGASSE
Es gibt keine »wahre Natur des Menschen«, die verhindert, dass wir die gesellschaftlichen Verhältnisse demokratisch gestalten. Wer behauptet, es gebe zu einer Welt der freien Marktwirtschaft, der globalen Konkurrenz und des schlanken Staats keine Alternative, dem ist vielmehr daran gelegen, den demokratischen Entscheidungsspielraum massiv einzuengen. Damit kommt sie oder er in einen unlösbaren Konflikt mit dem Grundkonzept der Demokratie, nämlich mit dem Postulat der aktiven Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Betroffenen. Demokratie ist dann nur noch »marktkonform« (Angela Merkel) denkbar. Doch genau dieses Diktat der Märkte macht die Menschen ohnmächtig, liefert sie dem Konkurrenzkampf aus und bringt sie dabei gegeneinander in Stellung: als Individuen auf den Arbeitsmärkten, als Belegschaften im Unternehmenswettbewerb, als Nationen im Kampf der Wirtschaftsstandorte. Damit geht dann tatsächlich jede Bemühung verloren, die Weltverhältnisse zivilisiert zu gestalten.
Für eine dauerhafte Etablierung demokratischer Prozesse sind verlässliche Daten unabdingbar. Wir müssen seriös ermitteln, ob und wie schnell die durchschnittliche Temperatur auf der Erde ansteigt. Wir brauchen überprüfbare Erklärungen dafür, warum dies geschieht. Wir benötigen belastbare Modelle über die Wirkungen auf die Ökosphäre und auf die Lebensbedingungen für die Menschen. Erst auf einer solchen Grundlage kann über sinnvolle Maßnahmen im Zusammenhang mit der Klimaerhitzung diskutiert, können zielgerichtete Maßnahmen identifiziert und entsprechende Entscheide gefällt werden. Nur auf dieser Grundlage können verschiedene Interessen eingeordnet und demokratisch legitimierte Entscheide ausgehandelt werden. Dazu hat der sozialkritische Thinktank Denknetz 2019 Thesen mit dem Titel »Wahr sagen: Kritische Öffentlichkeit, Demokratie und Macht« publiziert. In der Einleitung heißt es: »Wahr zu sagen ist die Bemühung, alle relevanten Fakten auf den Tisch zu bekommen und diese Fakten kritisch zu analysieren. Eine widerstandsfähige Kultur des Wahr Sagens ist der Lackmustest für eine Gesellschaft, die auf der demokratischen Regelung der öffentlichen Angelegenheiten basiert. Ein solche Kultur des Wahr Sagens steht von Seiten der Mächtigen schon seit je unter Druck. In den letzten Jahren ist nun aber ein eigentlicher Zerfallsprozess in Gang gekommen, der mit