Der Nachteil: Spieler aus dem eigenen Kader durch das Ansammeln von Fouls der Gefahr der frühen Disqualifikation auszusetzen. Es war also ein zweischneidiges Schwert, aber offensichtlich scharf genug. Denn die Taktik wurde irgendwann von anderen Trainern kopiert und nötigte die obersten Etage der NBA dazu, sich Gedanken über eine Regeländerung zu machen. Wozu es schließlich auch kam. Solche bewussten Fouls gegen Spieler, die nicht im Ballbesitz sind, werden seitdem in den letzten, oft entscheidenden Minuten eines Spiels damit geahndet, dass das betroffene Team einen anderen als das wurfschwache Mannschaftsmitglied die Freiwürfe ausführen lassen kann.
Der Hang von Nelson zum kreativen Experiment ähnelte oft dem eines Pokerspielers, der ahnt, wie gut oder schlecht die anderen bluffen, und der sich ständig darüber Gedanken macht, wie man aus dem unberechenbaren Stapel auf dem Tisch irgendetwas herausziehen kann, was einem am Ende die meisten Chips einbringt.
Ein Hang, durch den man sich auch schon mal massiv verzockt. Anfang der neunziger Jahre in Golden State zum Beispiel verschätzte sich Nelson auf besonders dramatische Weise. Da musste er, weil er dem Club unbedingt ein Talent wie Chris Webber sichern wollte, vor der Draft 1993 den Orlando Magic einen Spieler – Anfernee Hardaway – und drei Erstrunden-Draft-Picks geben.
Was er im Tausch dafür bekam, entwickelte sich zu einem regelrechten Desaster. Webber und er gerieten schon bald in Fragen der Taktik und des Positionsspiels aneinander. Das Selbstbewusstsein des Spielers war vermutlich unter anderem einem Faktor geschuldet, der erst 1998 ausgeräumt wurde. Der Tarifvertrag der Spielergewerkschaft mit der Liga ließ es bis dahin nämlich zu, dass Clubs hochgehandelten Nachwuchsspielern enorme Summen hinterherwarfen, auch wenn so etwas auf purer Spekulation beruhte und die Bezahlung weit über dem der älteren Profis lag. Diese Situation stärkte das schnöselige Selbstbewusstsein von Typen wie Webber ganz erheblich. Der sollte dann auch im Laufe seiner Karriere mehr als 170 Millionen Dollar brutto verdienen, das Doppelte von dem, was Michael Jordan im Rahmen seiner Arbeit bei den Chicago Bulls und in Washington einzunehmen in der Lage war.
Nur ein Jahr später hatte Nelson genug. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich von Webber zu trennen. Zum Glück fand er mit den Washington Bullets (heute Wizards) einen Abnehmer, der ihm im Wechsel nicht nur einen Spieler – Tom Gugliotta – sondern drei Erstrunden-Draft-Picks abgab. So kostete das Abenteuer den Club im Grunde zwar nichts, Nelson hingegen sehr viel – ein gutes Stück seiner Reputation als Prognostiker von Talenten. Wohl auch deshalb verlor er bei seinem nächsten Club, den New York Knicks, schon nach wenigen Monaten einen rasch aufkeimenden Machtkampf und kündigte mitten in der Saison trotz positiver Bilanz sang- und klanglos.
Er hatte schließlich Maui als Rückzugsoption. Tagsüber Golfspielen und nachts Pokern mit seinem Freund Willie Nelson – das wirkte wie ein attraktiver Plan.
Doch dann suchte ihn Frank Zaccanelli auf und unterbreitete ihm seine Offerte.
All das sollte man wissen, um zu verstehen, wie dem Pokerspieler Don Nelson am 24. Juni 1998, dem Draft-Tag, mit seinen riskanten Manövern einer der größten Geniestreiche in der Geschichte der NBA gelang. Seine Lust, aufs Ganze zu gehen, bescherte den Dallas Mavericks die Nachwuchsprofis Dirk Nowitzki und Steve Nash, die beide später als wertvollste Spieler der Liga ausgezeichnet wurden. Beide ausgestattet mit einem unkonventionellen Verständnis von ihrer Rolle auf dem Platz. Und jeder in seiner Entwicklung auf unterschiedliche Weise Zögling eines Mannes, der nie den Glauben an ihr Talent verlor.3
Dieser Mann hatte im Vorfeld jenes Abends durchaus deutlich signalisiert, dass er sich für Dirk Nowitzki interessierte, aber sich dann kurz vor der Entscheidung öffentlich mit deutlichen Äußerungen zurückgehalten. Nelson führe bekanntermaßen Leute gerne an der Nase herum, warnte die Dallas Morning News vier Tage vorher und spekulierte: „Viele General Manager sind überzeugt, dass dies Teil eines machiavellistischen Plans ist, der Dirk Nowitzki nach Dallas bringt.“
Machiavellistisch bedeutet im englischen Sprachraum: die Anwendung von List und Doppelzüngigkeit in der Staatskunst oder im allgemeinen Verhalten. Aber die Zeitung und der Rest der Welt mussten noch ein paar Tage warten, um herauszufinden, was Don Nelson in diesem Moment tatsächlich aus dem Ärmel ziehen würde, nachdem ihm die schlechte vorausgegangene Saison einen relativ guten sechsten Draft-Platz beschert hatte.
Er entwickelte in dieser Zeit nämlich einen Plan, um ordentlich mit dem Pfund zu wuchern, das er in der Hand hielt.
Wir unterhielten uns vor ein paar Jahren unter anderem über die Frage, weshalb er damals von seinen Entscheidungen so unglaublich überzeugt war:
„Stichwort Dirk Nowitzki. Sie haben sich enorm bemüht, ihn – einen damals gerade mal 20 Jahren alten Basketballer aus Deutschland – 1998 nach Dallas zu holen. Wieso waren Sie so sicher, dass aus ihm etwas wird?
DON NELSON: „Sein Arbeitseifer. Er kam als erster in die Halle zum Training. Abends hat er noch mehr trainiert. Abgesehen davon war er einfach der talentierteste Jugendspieler, den ich je gesehen habe. Er konnte rebounden, werfen, sich unter dem Korb gut in Stellung bringen. Ein außerordentlich beweglicher Basketballer. Und das mit 2,13 Metern.“
„Sie haben am selben Tag, als sie Nowitzki gedraftet haben, im Rahmen eines Spielertausches Steve Nash nach Dallas geholt. Der wurde später zweimal MVP, Nowitzki einmal. Stört es Sie, dass kaum jemand weiß, was für eine Spürnase für Talente Sie hatten?“
DON NELSON: „Du bist bei so etwas nie der einzige. Du hast einen kompletten Stab, der scoutet. Allerdings: Wenn es um Entscheidungen geht, traue ich mir selbst immer mehr als anderen. Ich habe nach dem Ende jeder Saison und vor jeder Draft hunderte von Stunden damit zugebracht, Spieler zu analysieren. Aber im Fall von Steve Nash hatte mein Sohn Donnie den Hauptverdienst. Der hatte ihn, ehe ich ihn in Dallas verpflichtete, bei den Phoenix Suns erlebt. Als zweiten Mann hinter Jason Kidd. Er hat mir gesagt, Nash ist besser als Kidd. Ich habe ihm das geglaubt.“
Er erkannte früher als andere Nowitzkis Potenzial: Don Nelson. (imago)
Jahre später, nachdem er vom Club kaltgestellt wurde und an seine alte Wirkungsstätte bei den Golden State Warriors zurückkehrte, musste er erleben, dass ihm Mark Cuban nicht besonders dankbar für seine Leistung war. Der Eigentümer der Mavericks verklagte den Ex-Trainer und behauptete, der hätte den spektakulären Erfolg der Warriors gegen Dallas in der ersten Play-off-Runde nur deshalb zustande gebracht, weil er Betriebsgeheimnisse besaß und eingesetzt habe. Abgesehen von der kuriosen Vorstellung, wonach das Wissen eines Basketballtrainers dem Club gehört, bei dem er arbeitet, war ziemlich klar, um was es in der Auseinandersetzung wirklich ging. Man hatte sich im Streit getrennt. Nelson verlangte 6,5 Millionen Dollar an ausstehenden Gehaltszahlungen, aber war damit auf normalem Weg nicht durchgedrungen und hatte ein Schiedsgericht eingeschaltet. Cubans Retourkutsche wirkte im Vergleich dazu nachtragend und infantil.
Das Gericht erkannte irgendwann die Rechtmäßigkeit von Nelsons Anspruch an, entschied auf eine Zahlung von 6,3 Millionen Dollar und eine Überweisung von weiteren 500.000 Dollar, um Nelsons Anwaltskosten zu übernehmen. Was die Beweisaufnahme produzierte, kam mit Verspätung 2009 an die Öffentlichkeit. Es enthüllte, wie die Beziehung zwischen Cuban und Nelson zerschlissen war. Im Mittelpunkt niemand anderer als der Star der Mannschaft: Dirk Nowitzki.
Ausgangspunkt für die Reibung war eine Situation von 2003 gewesen, als sich Nelson weigerte, im sechsten Spiel der Finalserie der Western Conference gegen die San Antonio Spurs, Nowitzki einzusetzen. Der hatte sich in einem voraufgegangenen Spiel eine Knieverletzung zugezogen. Cuban hingegen verlangte, angeblich nach Konsultation mit dem Teamarzt, den Würzburger trotzdem aufzustellen. Ohne ihn verloren die Mavericks das Spiel und die Serie.
Nelson erklärte im Schiedsgerichtsverfahren, weshalb er der Forderung seines Arbeitgebers nicht nachgekommen sei: Er habe als Spieler selbst eine ähnliche Verletzung erlitten und sich deshalb Sorgen gemacht, dass ein Einsatz Auswirkungen auf die weitere Basketball-Karriere von Dirk Nowitzki haben könnte. „Ich wollte diesen jungen Spieler nicht wegen eines einzigen Spiels einem solchen Risiko ausliefern. Egal wie wichtig dieses Spiel in diesem Moment auch gewesen sein mag.“