Das Schiff lief aus und steuerte auf die englische Südküste zu. Im Kanal allerdings wurde es in einen Sturm hineingetrieben, man sah nur das tobende Wasser ringsum, die schäumenden Riesenwellen schlugen übers Deck, keiner der Passagiere durfte seine Kabine verlassen. In Linas Kabine lagen in mehrstöckigen schmalen Kojen 16 Frauen, wenn sie sich nicht um die Eimer drängelten, in die sie sich erbrachen, die sie einander wegrissen oder auch zuschoben, denn es gab dort die einen und die anderen wie überall auf der Welt und immer im Leben: diejenigen, die neidisch das eigene Wohl in den Vordergrund schieben und die, die sich auch umsehen nach denjenigen, die neben ihnen stehen und deren Bedürfnisse anerkennen. Lina hatte genug von Schiffsreisen.
Als sie mit Verzögerung nach vier Tagen und Nächten, in denen sie sich in der Hölle gewähnt hatte, in Plymouth ankamen, erklärte Lina ihrem neuen Ehemann – das war er vorerst nur auf einem Papier –, sie gehe von Bord und mit dem nächsten Schiff zurück nach Hause.
Vielleicht deshalb, weil er sie ja so sehr hatte haben wollen und noch nicht gehabt hatte, weil er sich mit Leib und Seele nach ihr sehnte und genau wusste, dass sie die Richtige für ihn war, die einzige Richtige, die es jemals für ihn geben würde, und weil er sie eben für immer haben wollte, ging er zurück mit ihr und blieb. Zog ein in eine kleine Stube unterm Dach in das Haus des Henkers, der längst schon ein Taglöhner geworden war, einer, den man jederzeit rufen konnte, wenn etwas repariert werden musste.
Bertolds Schwiegervater war ein anständiger und grundgütiger Zeitgenosse. Er nahm ihn mit auf seine Einsätze und half ihm, eine Reputation als geschickter Mann fürs Grobe und Feine aufzubauen. Lina und Bertold bekamen nacheinander sechs Kinder. Nur zwei davon wurden erwachsen. Die bösen Nachbarn behaupteten, Lina habe sich am Geschrei der Säuglinge so sehr gestört, dass sie versucht habe, sie mit Schnapswickeln ruhigzustellen. Nur Sohn Anton und seine Schwester Karoline hätten diese Rosskur ausgehalten und somit die Feuertaufe fürs Weiterleben bestanden.
Anton war ein braves, aufgewecktes Kerlchen, geschickt mit den Händen, folgsam und bedächtig. Er schlug sowohl dem geduldigen und sanftmütigen Vater als auch dem umgänglichen Großvater nach. Er las gerne und hatte eine schöne Singstimme. Die einzige Lehrstelle, die sich für ihn fand, als er seine Schulzeit beendete, war in der Schreinerei vom Gefängnis. Dort lernte auch er wieder mit Holz und den zu seiner Bearbeitung geeigneten Werkzeugen, der Stich-, Kapp- und Kreissäge, dem Hammer, der Feile und sogar mit dem Hobel umzugehen. Er lernte Tisch- und Stuhlbeine zu drechseln, Leim und Schellack mit einem Pinsel aufzutragen, wo sie gebraucht wurden, gerade so dick und so flächig wie nötig. Er war anstellig, fleißig, zuverlässig. Hatte außerdem eine gut leserliche Handschrift und ein außergewöhnliches Gespür für Orthografie und Grammatik. Das kam vom vielen Lesen. Wann immer er Zeit dafür hatte, hielt er sich ein Buch vor die Nase und verschwand in fernen Welten. Er wusste mehr über die Goldgräberstädte in Amerika und Kanada als sein Vater. Das Abtauchen in erfundene Wirklichkeiten brauchte er, denn es fiel ihm schwer mitanzusehen, wie man zuweilen mit den Gefängnisinsassen umsprang. Wenn einer nicht spurte, dann brachte man ihm die Flötentöne bei, wie es die breitschultrigen Wärter mit den kantigen Kieferknochen nannten. Die Häftlinge wurden gestoßen, getreten, in den Bauch geboxt und alle wandten das Gesicht ab, wollten nichts gesehen haben. Das verletzte Antons Gerechtigkeitsgefühl, es machte ihn krank zu sehen, wie sich jeder Nicht-Gefangene das Recht herausnahm, die Einsitzenden wie ein Stück Dreck zu behandeln. Hätte man nicht erst einmal ihre Geschichte anhören müssen, hätte man sich nicht erst einmal ein Bild machen müssen, wie es dazu gekommen war, dass sie gestohlen oder betrogen hatten? Auch den Mördern war es manchmal möglich, eine plausible Erklärung für ihr Verbrechen zu geben. Hätte man sich nicht erst einmal dafür interessieren müssen, bevor man sich dem Urteilsspruch der Justiz einfach nur anschloss? Schuldig. Verloren. Unmensch. Abschaum.
Anton wollte, er konnte das nicht ein Leben lang weitermachen. Er würde daran zugrunde gehen. So kam ihm zugute, dass er sich frei und ungebunden fühlte, als er erfuhr, dass der deutsche Kaiser zunehmend aufrüstete und sein Lieblingskind, die Kriegsmarine, mit Nachdruck ausbaute. Anton hatte sich zu der Zeit mit einem Häftling angefreundet, der kurz vor der Entlassung stand und ihm zuflüsterte, wohin er vorhabe zu gehen, ans Meer, hinauf in den Norden, wo die großen Werften jeden brauchen konnten, der ein bisschen mit Holz und Werkzeugen umgehen könne, denn alles andere lerne man vor Ort.
Das eine ergab das andere. Nach drei Jahren schwerer Arbeit auf den Werften, wo er wirklich schuften lernte, bis die Haut in Fetzen von seinen Händen riss, wo er außerdem genug Geld verdiente, um sich eine schöne Gitarre und eine echt silberne Mundharmonika zu kaufen, heuerte Anton auf der SMS „Prinz Adalbert“ an, einem großen Kreuzer der Kaiserlichen Marine. Die Baukosten dieses stattlichen Schiffes hatten zehn Jahre zuvor rund 16 Millionen Goldmark betragen. Es war eine Ehre für Anton, nun dem kaiserlichen Heer anzugehören, die Matrosenuniform stand ihm gut, wenn er als Heizer auch nur selten irgendjemanden damit beeindrucken konnte. Trotzdem wuchs seine Beliebtheit in der Mannschaft stetig, sicherlich auch, weil er so schön Gitarre spielen konnte, dazu mit seiner warmen Baritonstimme in jeder Stimmung die richtigen Lieder sang, dazwischen sehnsuchtsvolle Melodien aus der Mundharmonika saugte und ansonsten nur auffiel durch ein hohes Maß an Verlässlichkeit und Pflichtbewusstsein. Anton schaufelte Kohlen im Bauch des Schiffes, als die „Prinz Adalbert“ die Minenkreuzer Nautilus und Albatross beim Legen einer Minensperre unterstützte. Er schwitzte im Bauch des Schiffes, als es nach Kriegsbeginn vor der baltischen Küste operierte, vom britischen U-Boot E9 torpediert und beschädigt wurde, aber wieder freikam und nach Kiel zurückkehren konnte. Nicht durch den Beschuss, sondern durch ein unglückliches Hantieren beim notdürftigen Versorgen der lecken Außenwand, hatte Anton sich eine tiefe Fleischwunde am rechten Oberschenkel zugezogen, so dass er beim erneuten Auslaufen des Schiffes nicht mehr mit an Bord war. Es wurde ihm das Eiserne Kreuz verliehen und dazu wurde eine entsprechende Nachricht in der lokalen Zeitung eingerückt. Sein Vater klebte den Zeitungsausschnitt von hinten auf einen rechteckigen Glasquader, den er von nun an als Briefbeschwerer verwendete, den der Sohn später in seinen eigenen Haushalt übernahm, den Antons Tochter schließlich nach dem Tod des Vaters zu ihren Preziosen in ein hölzernes Kästchen legte.
Anton befand sich also in Bruchsal auf Heimaturlaub, als die „Prinz Adalbert“ am 23. Oktober 1915, wieder im baltischen Teil der Ostsee, erneut von einem britischen U-Boot aus beschossen wurde. Dieses Mal wurde das Munitionsmagazin getroffen. Die Explosion riss das stolze Schiff entzwei, nur drei der 675 Mann Besatzung wurden gerettet. Eigentlich vier, denn Anton hatte sich immer noch zugehörig gefühlt. Er war außer sich, als er vom Schicksal seines Schiffes hörte, er weinte still in sein Kopfkissen, stundenlang verweigerte er die Nahrung, schlug mit beiden Fäusten an die Wand seines Zimmers, bis er den Schmerz der blutenden Risse spürte, bis er sich von seinem Vater einfangen und in sein Bett bringen ließ. Die Mutter kippte ein ganzes Fläschchen Baldrian in einen Schnaps und der Vater wendete nach langer Zeit wieder einmal einen Griff an, den er einstmals gelernt hatte zur Verteidigung im Fall einer Gefängnisrevolte, so zwangen die beiden ihren Sohn, den 192 cm langen und muskulösen Marinematrosen in sein Bett und hielten ihn fest, bis er in einen unruhigen zehnstündigen Schlaf absacken konnte. Als der Krieg zu Ende war, hatte für Anton längst ein neues Leben begonnen. Er landete auf dem Posten eines Grenzaufsehers in der Waldshuter Gegend, begann wieder Gitarre zu spielen, zog am Wochenende die Uniform aus und ging von Dorf zu Dorf, spielte und sang, nahm auch die Mundharmonika aus der Hosentasche und entlockte ihr die klagenden Melodien von einst. Zu allem, was man hörte aus Berlin, aus Hamburg, aus Kiel nickte er nur ein kleines bisschen mit dem Kopf. Er befand sich in einer Art Zwischenreich, war nicht tot, nicht lebendig, inzwischen Mitte 20 und ahnte, dass er etwas ganz Bestimmtes brauchte, um wieder an die Zukunft glauben zu können.
Neujahr
1919
Johanna hat die glitzernden Perlenohrringe eingesteckt. Sie trägt ein wunderschönes von Helene entworfenes wadenlanges Kleid, schwarzer Tüll über einem weißen Crêpe-de-Chine-Unterrock, die blonden Haare mit Eigelb gespült. Sie hat einen Beau-Jour, denkt die Mutter. Auch Helene, Gott sei Dank, lächelt zumindest jetzt für das Foto, obwohl ihre Augen ganz verhangen sind. Diese ungute Sache mit dem jungen Mann, den sie sich so sehr in den Kopf gesetzt hat, schwebt immer noch wie eine dunkle