Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick. Petra Häußer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Häußer
Издательство: Bookwire
Серия: Lindemanns Bibliothek
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783963081613
Скачать книгу
Der hatte den Mut, manchmal vom Lehrplan abzuweichen und wirklich Interessantes aufs Tapet zu bringen. Kerle wie den Karl Mohr, mit dem man sich identifizieren konnte, zum Beispiel. Wenn der Oberstudienrat Körner von Schiller sprach, dann war er nicht der Weimarer Dichterfürst, dann war er ein junger aufsässiger Deserteur, der vor seinem Vater und dem König floh, um seine Seele zu retten. Wie die Auflehnung sich breitmachte in seinem Kopf und seinem Herzen. Wie er darum kämpfte, dass seine „Räuber“ aufgeführt werden konnten, hier in Mannheim. Eines Tages bestellte der Dr. Körner Richard dann zu sich und redete ihm ins Gewissen, ermahnte ihn ernsthaft, dass seine Versetzung gefährdet sei, wenn er so weitermache.

      „Deine Noten fordern meine mathematischen Fähigkeiten heraus. Zweimal Mangelhaft im Hauptfach, wie wäre das auszugleichen? Eine Drei in Deutsch reicht nicht und mehr hast du im Augenblick nicht verdient.“

      Er unterbreitete Richard ein Angebot. Mit einer zusätzlichen Fleißarbeit könnte er seine Note bei ihm verbessern, könnte ein Gut erreichen, mit dem das zusätzliche Mangelhaft in Latein ausgeglichen werden sollte. In Sport würde seine alte Note übertragen, das Gut im Sport könnte zusammen mit einem

      Gut – in Physik vielleicht, da habe er ja wenigstens die beiden Praktika mit gutem Erfolg absolviert – die andere mangelhafte Note abfangen. Richard empfand eine Art Verpflichtung, auf dieses Angebot einzugehen. Dr. Körner schien seine Situation zu verstehen und seine stille Rebellion anzuerkennen. So begann Richard die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben. Vom Urgroßvater Walker erzählte er, dem Lotsen, vom Großvater Sömmer, dem Musiker, vom Urgroßvater Klumpp, dem Goldsucher, vom Vater, der Heizer gewesen war an Bord der SMS „Prinz Adalbert“. Doktor Körner behielt das Heft und rettete ihm mit seiner guten Zensur den Arsch. Er versprach Richard darüber hinaus, dass er dafür sorgen wolle, den Text zu veröffentlichen.

      „Du hast Talent zu erzählen. Sprache, das ist dein Stoff. Bleib dran. Darin sehe ich deine Zukunft.“

      Aber dann, dann war das Heft mit allem, was der Körner in seinem Schreibtisch hatte, konfisziert und vernichtet worden, als man ihn staatsfeindlicher Umtriebe verdächtigte, weil er ein Sozi war, insgeheim. Hätte die Schulbehörde das geahnt, hätte er schon lange vorher seine Stellung eingebüßt. Ein Glück für seine Schüler, ein Glück für Richard, dass das nicht passierte. Der arme Körner landete schließlich bei der Organisation Todt und musste irgendwie überlebt haben, denn Ende der 50er-Jahre kam ein Luftpostbrief aus Amerika. Immerhin Herr Körner hatte dort eine neue Existenz gegründet, verdiente sein Brot als Farmhelfer in Iowa und arbeitete am Abend seine Vergangenheit auf, schrieb Briefe nach Deutschland, um sein Heimweh erträglich zu machen, vielleicht, oder weil er nicht mit offenen Rechnungen im Gepäck sterben wollte. Hatte eine Frau geheiratet und eine Tochter bekommen, die dem Vater versprach, diese Briefe nach seinem Tod abzuschicken und die ihr Versprechen hielt. Das Schreiben irrte eine Weile bei der Mannheimer Post hin und her, bevor es bei Tante Johanna landete und diese gab es ihm bei einem seiner Besuche, das musste schon in den 60er-Jahren gewesen sein. Er war längst in einem anderen Leben gelandet. Es war ein gutes Leben zu dieser Zeit und er hatte keinen Grund, den unerfüllten Möglichkeiten nachzujammern. Oder hatte er es doch einmal getan? Hatte er ihr davon erzählt? Seiner Tochter? Ihr ein Versprechen abgerungen? Er konnte sich nicht erinnern.

      „Bist du ein Geschichtenerzähler?“

      Richard seufzt. Er würde seufzen, wenn er noch dort wäre. Er nickt. Aber er hat nicht den Eindruck, dass das jemanden interessiert.

      Da liest er es auf dem Bildschirm: „Er konnte erzählen, ausführlich und detailversessen bis zur Schmerzgrenze des Zuhörers.“

      Es ist vorbei und doch nicht. Wie lange wird sich noch irgendjemand erinnern?

      Die „anderen“ Großeltern

      Antons Vater Bertold stammte aus dem Murgtal, die Mutter aus Bruchsal, der Stadt mit dem schönen Barockschloss und dem Gefängnis. Sie war die Tochter des örtlichen Henkers, hatte rote Haare und eine flinke Zunge. Aus ihren grünen Augen blitzte es immer, man wurde das Gefühl nie los, auf einem Pulverfass zu sitzen mit ihr, gleich würde sie hochgehen, sich an irgendetwas stoßen, sich aufplustern zu einer wütenden Reaktion. Ob der Beruf ihres Vaters, ihr Aussehen oder ihr Wesen sie an den Rand der Gesellschaft getrieben hatten, ist bis heute schwer zu sagen. Ihre hartnäckigen Versuche, dabei zu sein, wenn sich die jungen Leute aus der Nachbarschaft trafen, um zu tanzen, oder sich gemeinsam aufmachten in die Kraichgauer Weinberge, um in den goldenen Herbstnachmittagen der Septemberwochenenden den ersten neuen, leicht bitzelnden Wein zu kosten, waren der Einsicht geschuldet, dass sie diesen Kontakt brauchte, dass sie eigentlich dazugehören wollte, dass sie wie andere junge Mädchen darauf aus war, einen zu finden, der sie zur Frau nähme. Es schien hoffnungslos, bis einer kam, der auch nicht dazugehörte, ein Fremder, der anders sprach und anders angezogen war. Er sah sie direkt an, nahm keinen Umweg über die blonden anschmiegsamen Kichererbsen oder irgendeine reiche Weinbauerntochter, er holte SIE zum Tanzen auf die Holzplanken, die man auf der Burg Ravensburg unter die alten Kastanienbäume gelegt hatte, damit es schön knallte, wenn man bei der Polka mit den Fersen aufstampfte. Im abnehmenden Licht setzten sie sich in einer Tanzpause auf die Mauer und sahen einander in die Augen, nachdem sie sich vollgetrunken hatten mit der Schönheit der umliegenden Rebenhänge. Wo kommt er denn her, will sie wissen, was macht er, womit verdient er sein Geld?

      Er ist nur zu Besuch hier in Bruchsal bei seiner Patentante, kommt eigentlich von weither, von Amerika, da lebt er schon einige Jahre.

      Und warum lebt er in Amerika und warum ist er jetzt heute hier?

      Ursprünglich stammt er aus dem Murgtal, ist der ledige Sohn einer Bauerstochter, die von ihrem Vater aus dem Haus gejagt worden war, als sie ihn erwartete, die dann unterkam in Gernsbach in einem großen Haus, bei einer feinen Familie, einem Juden, der ein Menschenfreund war und sie sogar in seine Küche ließ, ihr erlaubte, das für sich und ihr Kind mitzunehmen, was nicht aufgegessen wurde. Sie lebten ganz gut, bis seine Mutter starb. Er war gerade 14 geworden und dem zunehmend komplizierten Leben noch kaum gewachsen. Schließlich kam er unter bei den Flößern im Kinzigtal, lernte mit der Axt und dem Löffelbohrer, sämtlichen Flößerhaken und Krempen umzugehen und schlief mal da und dort, wohin einer ihn mitnahm, manchmal einfach nur in einer der kleinen Tiroler Heuhütten. Das Flößen ist eine verflucht gefährliche Sache und er wäre darin stecken geblieben, immer nur die Drecksarbeit zu machen. Die einträglichen Positionen blieben in der Hand weniger Familien, dazu gehörte er nicht. Deshalb ging er mit, als einer seiner Kumpels ihm vom Gold erzählte, das man in Amerika finden konnte und das einen armen Mann dann über Nacht reich macht.

      Lina hörte ihm gebannt zu, dem Fremden. Als er die Stadt beschrieb, in der er jetzt wohnte, die Forty Mile hieß und an einem wunderschönen Fluss gelegen war, in der es ein Theater und Restaurants, sogar eine Bücherei gab und vor allem Gesetze, die das Zusammenleben der Menschen dort sicherten, leuchteten ihre Augen. Jetzt war er zurückgekommen, um sich eine Frau zu suchen. Die Patin hatte ihm in all ihren Briefen die Bruchsaler Mädchen angepriesen. Wie tüchtig sie seien und wie schön. Ihm stand nicht der Sinn nach einer Indianerin, er wollte jemanden neben sich haben, mit dem er sich in seiner Muttersprache unterhalten konnte und der wusste, wovon er sprach, wenn er „Weihnachtsbaum“ und „Butterbackes“ sagte.

      Sie waren sich schon an diesem Abend einig. Waren verlobt, bevor sie hätten ein Liebespaar werden können.

      Lina packte ihre Sachen und stand bereit, als Bertold einige Tage später im Morgengrauen zum Haus kam, das sie ihm beschrieben hatte, um sie abzuholen, da wusste er noch nicht einmal ihren Nachnamen. Die Tochter des Henkers sah hier ihre Chance, alles hinter sich zu lassen, was sie einengte und verbitterte. Den Vater und seinen Ruf, den Blick auf ihre ungute Haarfarbe, das Gezeter über ihren Widerspruchsgeist. Noch leuchteten die Augen des Fremden, wenn er sie ansah, das musste man nutzen.

      Drei Tage waren sie unterwegs mit verschiedenen Kutschen, bevor sie in Bremerhaven ankamen. Lina hatte Hunger und Durst, aber sie freute sich darauf, bald eine verheiratete Frau zu sein und weg von allem, was sie zu Hause ihr Leben lang beschämt und enttäuscht hatte. Der Kapitän ihres Schiffes würde sie trauen, das hatte Bertold ihr erklärt, und so fand eine kleine Feier auf dem Schiff statt. Mit salbungsvollen Worten, einem Abschnitt aus der Bibel und einem