Wie uns die Menschen in diesem Buch zeigen, kann das Judentum ebenso wie jede andere Religion für das persönliche Leben von Bedeutung sein – oder eben auch nicht.
Gerade in einer Stadt wie Biel mit ihren unterschiedlichsten Einflüssen und Bewohnern scheint es mir wichtig, diese vielfältigen und individuellen Möglichkeiten aufzuzeigen, Judentum zu leben oder zu definieren. Diese Erkenntnis kann dazu beitragen, Stereotype oder Vorurteile abzubauen, auch gegenüber Mitgliedern anderer Religions- oder sonstigen Gemeinschaften.
So gibt es vielleicht dank diesem Buch ein paar stereotype Vorstellungen und Vorurteile weniger und ein paar ganzheitliche Bilder von Jüdinnen und Juden – nämlich als selbstverständlicher Teil der Schweizer Bevölkerung – mehr. Denn ich meine, mit den Worten meines Gesprächspartners Haim Madjar: «Jeder hat seinen eigenen Weg.»
Von Herzen danke ich den Menschen, die sich bereit erklärten, mir ihre Geschichte zu erzählen, die mich an ihrem Leben teilhaben liessen, sich mir bereitwillig öffneten und die Erinnerungen an Freud und Leid mit mir teilten: Ofer Fritz, Yona Fritz, Simon Lauer, Avinoam Levy, Haim Madjar, Yaron Maor, Joke Mollet, Georges Rosenfeld und Charlotte Schnegg.
Gabriela Dömötör, Catherine Fellmann, Vera Gerz und Katharina Stöckli vom Verein Kulturigunden sowie Esther Hörnlimann danke ich für den Austausch und ihr kritisches Gegenlesen. Marina Tardin danke ich für die wunderbaren Porträtfotografien, der Historikerin Stefanie Mahrer und dem Bieler Stadtpräsidenten Erich Fehr für die ergänzenden Texte. Meiner Familie danke ich aus vollem Herzen für ihre Unterstützung und ihr Dasein an meiner Seite.
Joke Mollet
(
Oh, ich habe Sie für morgen erwartet. Aber kein Problem, kommen Sie rein. Möchten Sie einen Tee? Im Moment bin ich nicht so wendig mit meinen Krücken. Vor zwei Tagen bin ich auf dem Trottoir gestürzt. Ich bin wohl über einen kleinen Stein gestolpert und habe mir ein Mittelfussknöchelchen gebrochen. Das kann man nicht eingipsen, der Fuss ist einfach geschwollen und blau. Ich nenne das jetzt «Ferien» und liege auf dem Bett und lese. Sechs Wochen lang. Ja, so ist das Leben.
Das hier sind Alterswohnungen. Aber man macht alles selbst, es gibt keine Betreuung. Ich schaute auch mal eine Einzimmerwohnung an und merkte dann, dass das gar nichts für mich ist. Ich brauche ein bisschen Ellenbogenplatz. Ich habe viele Bücher. Seit acht Jahren bin ich hier, vorher wohnte ich fünf Jahre bei meiner Schwiegertochter, etwas weiter oben am Jura. Nachdem mein Sohn gestorben war, musste ich ihr helfen. Ihre Zwillinge waren damals erst eineinhalbjährig.
Das war auch der Grund, weshalb ich meine Funktion als Präsidentin der Jüdischen Gemeinde 2004 aufgab. Vier Jahre lang hatte ich das gemacht.
Ich bin seit bald zwanzig Jahren pensioniert, mit 62 Jahren konnte ich damals aufhören. Ich arbeitete gerne. Nach der Scheidung fing ich wieder an, in dem Beruf zu arbeiten. Damals war ich 48 Jahre alt und es war gerade Rezession. Ich erkundigte mich, ob es etwas gäbe als Sekretärin. Da gab es aber keine freien Stellen, weil viele Leute aus der Uhrenbranche so untergekommen waren. Ich fand dann etwas in der Pflege, meinem ersten Beruf, den ich als junge Frau in Amsterdam gelernt hatte.
Mit 19 Jahren hatte ich mitten in der Ausbildung eine schwere Lungenentzündung gehabt, an der ich beinahe gestorben wäre. Auf Penicillin sprach ich nicht an. Damals gab es noch nicht so viele verschiedene Medikamente. Der Arzt brachte mir eine grosse Tablette und meinte, das sei seine letzte Hoffnung für mich: «Entweder du bist morgen tot oder es geht dir besser.» Und dann ging es mir besser. So überlebte ich diese Krankheit.
Ich ass 14 Tage lang nichts, verlor alle Haare und musste nach sechs Wochen liegen wieder lernen, zu gehen. Nach meiner Genesung musste ich aber gleich wieder voll einsteigen. Damals, in den 1960er-Jahren, sprach noch niemand von Halbtagsarbeit. Als ich schliesslich aber während einer Nachtwache zusammenbrach, liess ich mich zur Sekretärin umschulen. Auf diesem Beruf arbeitete ich dann in Holland und später auch in der Schweiz.
Meinen Mann lernte ich in Hamburg kennen, in einem Ferienlager. Wir hatten zunächst jahrelang Briefkontakt. Ein anderer Schweizer, ein Bekannter meines späteren Mannes, war mein damaliger Freund. Da er katholisch war, liess ich mich in Amsterdam zwei Jahre lang von einem Jesuitenpater unterrichten. 1956 reiste ich in die Schweiz, um die Beziehung zu diesem Schweizer auf ihre Ernsthaftigkeit zu prüfen und arbeitete für drei Monate in einem Kinderheim in Wildhaus. Ich sagte diesem Mann dann aber schweren Herzens ab. Er war wirklich sehr katholisch, das hätte nie funktioniert mit uns.
In diesem Kinderheim waren wir nur zu dritt: eine Krankenschwester, die das Heim führte, ein Mädchen aus dem Dorf für die Küche und ich. Ich war für die Kinder zuständig und nahm auch das Telefon ab. Mein Mann, der ja damals noch nicht mein Mann war, kam gerade aus Ungarn zurück, wo er nach dem Ungarn-Aufstand als Rotkreuzhelfer tätig gewesen war, und rief in diesem Kinderheim an, um mit mir zu sprechen. Er glaubte mir nicht, als ich sagte, ich sei bereits selbst am Apparat: «Das kann nicht sein, sie spricht kein Schweizerdeutsch.» Die kleinen Kinder hatten mein schönes Schulhochdeutsch nicht verstanden, das ich am Gymnasium in Amsterdam gelernt hatte. Da musste ich eben sehr schnell Schweizerdeutsch lernen.
Einmal spazierte ich mit einer Gruppe Kinder an vier holländischen Touristen vorbei, die sich über mich mokierten. Erst als wir beinahe vorbei waren, gab ich ihnen auf Holländisch Antwort. Das war ihnen natürlich sehr peinlich.
Ich bin von Haus aus überhaupt keiner Religion zugehörig. Ich wurde atheistisch erzogen, meine Eltern waren Sozialisten. Mein Vater war christlich, meine Mutter getauft und nur – sagen wir der Herkunft nach – jüdisch. Sie waren aber beide nicht praktizierend, im Gegenteil.
Mein Urgrossvater mütterlicherseits – das Jüdisch-Sein wird immer von der Mutter an die Kinder weitergegeben – wurde im Dienst als Adjutant eines Generals auf einer Russlandreise von diesem zum Christentum bekehrt und konvertierte mit der ganzen Familie. Die ersten beiden Söhne hiessen noch Moses und Samuel, die folgenden acht Kinder erhielten jedoch holländische Namen. Meine Grossmutter hiess Wilhelmina.
Sie waren ein lustiges Paar, meine Grosseltern. Bei der Hochzeit war er 19- und sie 23-jährig. Erst beim Eintrag für die Heirat erfuhr sie sein junges Alter, vorher hatte er sich als älter ausgegeben. Die Grosseltern hatten einander sehr gern, das merkte man. Sie hielten immer Händchen, das war wirklich herzig. Und er verwöhnte sie sehr. Sie hatte Schwierigkeiten mit der Galle. Holländisches Essen ist ziemlich fettig. Heute besteht eine solche Operation aus drei kleinen Löchern, aber zu dieser Zeit hätte man noch einen riesigen Schnitt an der Seite machen müssen, was gefährlich gewesen war. So war meinem «Grossmüeti» das Leben lang immer ein bisschen übel. Ich habe sie nie anders gekannt, als im Lehnstuhl sitzend.
Obschon meine Grossmutter getauft und mit einem christlichen Mann verheiratet war, galt sie mit vier jüdischen Grosseltern im Krieg als jüdisch und wurde zur Deportation aufgeboten. Meine Mutter aber hatte ziemlich Chuzpe, Mut. Sie ging ins Hauptquartier der Gestapo und sagte mit ihrer lauten Stimme: «Das könnt ihr nicht machen.» – In der Schule, in der sie arbeitete, sagte man immer, wenn sie im dritten Stock oben rede, höre man das bis ins Parterre. – «Ihr habt Regeln, also haltet euch daran.» Und diese Regeln waren: Jemand, der christlich getauft, christlich verheiratet oder über 63 Jahre alt war, konnte nicht zur Deportation aufgeboten werden. Die ganze Familie sass zu Hause, und wir wussten nicht, ob die Mutter überhaupt wieder zurückkommt. Für die Unterstützung von Juden konnte man auch bestraft werden. Mit ihrer unerschrockenen Art konnte meine Mutter aber die Deportation der Grossmutter verhindern.
Mein Vater arbeitete als Diamantsäger, schon sein Vater war Diamantschleifer gewesen. Diese Diamantfirmen wurden meistens von Juden geführt. Als Kind sang mein Vater mir manchmal ein jiddisches Wiegenlied, das er von seinen jüdischen Mitarbeitern gelernt hatte. Im Krieg wurden sie alle deportiert, der Betrieb wurde aufgehoben, und mein Vater hatte keine Arbeit mehr. So war er zu Hause und führte den