„Okay, ich weiß Bescheid. Also dann, wer ist dran?“, fragte Anabel.
„Simon!“, riefen sogleich alle im Chor.
„Na, Blondi, dann sieh zu!“, provozierte Anabel Simon. Alles lachte.
Von der Geräuschkulisse erwachte Isabel wieder aus ihrem Schlaf. Sofort war Harry zur Stelle und gesellte sich zu seiner Freundin. Isabel kuschelte sich in seinen Arm. „Die anderen scheinen ihren Spaß zu haben?!“
„Ja, sie spielen Karten. Eine unserer Lieblingsbeschäftigungen, wenn wir aufeinandertreffen. Anabel mischt übrigens fleißig mit! Kannst Du pokern?“, fragte Harry.
Isabel schüttelte den Kopf. „Nee, das ist mir zu kompliziert. Mit meinen Eltern spiele ich ab und an mal Rommé, da ist das Zusammenrechnen noch überschaubar. Aber eigentlich ziehe ich andere Gesellschaftsspiele dem Kartenspiel vor.“
„Und welche wären das?“
„Ich mag Brettspiele ganz gern: Monopoly oder Mensch Ärger Dich Nicht finde ich klasse.“
„Monopoly finde ich auch toll. Wir werden sicherlich die Tage noch zu einer Runde Monopoly oder Rommé kommen. Und sonst, was magst Du sonst noch?“
„Dart und Billard finde ich ganz reizvoll, bin darin aber der volle Anfänger. Annie war mal eine ganze Weile vom Billard gar nicht wieder wegzukriegen. Sie ist richtig gut und ab und an geht sie nach Feierabend eine Runde spielen. ‚Um nicht aus der Übung zu kommen‘, sagt sie immer. Aber ihr Lieblingsspiel ist seit Kindertagen an Twister“, erzählte Isabel weiter.
Harry grinste breit. Twister, soso!
Während Harry seinen Gedanken nachhing, schloss Isabel abermals die Augen und döste noch ein wenig vor sich hin. Derweil war im vorderen Bereich des Flugzeugs das Pokerspiel in die spannende Endphase übergegangen. Da Carmen zwangsweise – sie hatte keinen Jeton mehr – aussteigen musste, saßen sich somit nur noch Simon und Anabel allein vis-à-vis und blickten sich tief in die Augen. Alle sahen gebannt zu Anabel und warteten darauf, dass sie den nächsten Schritt tat. Mit einem provozierenden und zugleich sehr entwaffnenden Lächeln schob sie alle ihre Jetons in die Mitte des improvisierten Spieltisches, außer einem 1.000-Dollar-Chip, den sie durch ihre rechte Hand immer auf und ab wandern ließ. Prompt standen Simon die Schweißperlen auf der Stirn und er rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her.
„Ich mache Dich doch wohl nicht etwa nervös, Blondi?“, hakte Anabel sogleich nach und schnipste dabei mit den Fingern ihren letzten unbedeutenden Chip in die Luft. Er landete exakt auf einem ordentlich aufgestapelten Jeton-Türmchen. Simon schluckte hart, während die Mädels unweigerlich zu kichern anfingen.
„Ruhe!“, herrschten die anderen zwei Jungs wie aus einem Mund die Störenfriede an.
„Ups, Sorry!“, flüsterte Vivienne.
Anabel grinste und schob ihr Kinn leicht nach vorn. Unsicher kaute Simon auf seiner Unterlippe und sah immer wieder zwischen seinen Karten und Anabel hin und her.
„Ey Alter, mach’ jetzt ja keinen Fehler! Unsere Ehre steht auf dem Spiel!“, kam es auf einmal überraschend von Kevin, der fast genauso nervös war wie Simon. Sogleich kicherten die Mädchen von Neuem.
„Ich sagte: Ruhe!“, rief Mitch erbost und schon war es wieder mucksmäuschenstill.
Simon pustete heftig die eingeatmete Luft wieder aus. Prompt fiel eines der Jeton-Türmchen um. Simon schluckte und sah abermals Anabel in die Augen. Ihr Gesichtsausdruck war nunmehr ernst und verschlossen. In ihren Augen konnte er jedoch lesen, dass sie bereits seine Karten kannte und nur noch darauf wartete, dass er entweder ein letztes Mal versuchte zu kontern, um das Blatt eventuell doch noch herumzureißen; was wohl im Grunde aussichtslos schien, oder eben kniff und gleich aufgab. Simon versuchte krampfhaft, sich an die bereits abgeworfenen Karten zu erinnern, um so herauszubekommen, welches Blatt Anabel haben könnte. Aber es gelang ihm einfach nicht. Verzweifelt gab er sich geschlagen, denn er war zu dem Entschluss gekommen: Wer so hoch pokerte, der konnte einfach nicht nur bluffen! Er ergab sich und deckte sein Blatt auf und hatte dabei klatschnasse Hände. Als die anderen sein Blatt sahen, hielten sie hörbar den Atem an, denn es gab nur noch ein einziges Blatt, welches höher war und sich gerade einmal nur mit drei Punkten unterschied. Alle Blicke waren nun auf Anabel gerichtet, die sich entspannt zurücklehnte, ein spitzbübisches Lächeln aufsetzte und ganz langsam ihr Blatt aufdeckte – Karte für Karte. Ihr Grinsen wurde dabei immer breiter, bis ihre schneeweißen Zähne aufblitzten und sie still vor sich hin lachte. Sogleich wich jegliche Farbe aus Simons Gesicht. Schadenfreude! Auch ohne auf ihre Karten zu schauen, wusste er nicht nur von den lärmenden Stimmen um sich herum, dass sie ihn eiskalt hereingelegt hatte.
„Hallo Simon, jemand zu Hause?! Ey Alter, hast Du eventuell irgendetwas zu Deiner haushohen Niederlage zu sagen?“, drang es langsam zu ihm durch. Verwirrt blickte er zu Kevin auf und dann warf er doch einen Blick auf Anabels erbärmliches Blatt. Ihm lief es prompt eiskalt den Rücken herunter. „Uhhh!“, rief er entsetzt aus.
Anabel lächelte nur verschmitzt und zuckte lapidar mit den Schultern. Dann klatschte sie sich in die Hände und stand auf. „Ich glaub, ich brauch jetzt ’ne Erfrischung!“, überlegte sie laut und stiefelte nach hinten in den Küchenbereich.
Sie wollte gerade ihr zweites Glas Orangensaft leeren, als Simon zu ihr hinter den Vorhang trat und ihr die Hand reichte. Fragend stellte sie das Glas wieder ab und legte ihre Hand in die seine.
„Gratulation. Ich habe bislang noch niemanden gesehen, der so gerissen spielt wie Du. Aber es hat Spaß gemacht. Danke für das großartige Spiel!“, sagte Simon offen und ehrlich.
„Immer wieder gern“, kam es lächelnd von Anabel. „Aber eigentlich hättest Du wissen müssen, worauf Du Dich bei mir einlässt …“
„Wieso, weil Du wie Dein Bruder spielst?!“, fiel es Simon prompt wie Schuppen von den Augen.
Sofort blitzten wieder Anabels schneeweiße Zähne hinter wunderschön geschwungenen dunkelroten Lippen auf. „Hart, aber fair.“
Simon grinste breit.
„Und, Blondi, Lust auf noch eine weitere Runde?“, fragte Anabel völlig entspannt.
Simon räusperte sich sogleich. „Ähhh, nein, danke. Ich glaube, zweimal hintereinander von gleich zwei Frauen abgezogen zu werden genügt fürs Erste.“ Anabel musste unweigerlich kichern. Simon stimmte mit ein.
„Durstig?“, fragte Anabel.
Simon nickte und sagte: „Ja, Dein O-Saft sieht ganz appetitlich aus.“ Anschließend griff er sich einfach ihr Glas vom Tresen und trank es umgehend vor Anabels Augen aus. Anabel entglitten daraufhin die Gesichtszüge und empört öffnete sie den Mund. Sie hatte jedoch bereits wieder vergessen, was sie auf dieses rüpelhafte Benehmen erwidern wollte.
Mit den Worten „Tja, hart, aber fair“ stellte Simon das leere Glas wieder auf die Arbeitsplatte und verließ mit einem Augenzwinkern den Küchenbereich.
Anabel starrte perplex auf den sich bewegenden Vorhang.
Nachdem dieser ausgeschwungen hatte, fing sie laut an zu lachen und wollte sich auch nicht wieder einkriegen. Fragend steckte Isabel ihren Kopf durch den Vorhang und blickte verwirrt ihre beste Freundin an. Diese schüttelte jedoch nur den Kopf und folgte Isabel zurück zu den anderen. Als sie Simon erblickte und er ihr ein verschmitztes Lächeln zuwarf, fing sie gleich wieder an zu lachen. Anschließend reichte sie ihm die Hand. Er nahm sie an und sah ihr dabei tief in die Augen.
Alle anderen Augenpaare blickten ebenfalls erwartungsvoll auf das sich vor ihnen präsentierende Bild.
„Touché!“, rief Anabel aus und schüttelte Simons Hand. Dieser grinste nur und dankte mit einem Kopfnicken. Anschließend setzte sich Anabel wieder auf ihren ursprünglichen Sitzplatz zu Isabel und Harry.
Simon wurde derweil von seinen anderen Freunden weiterhin entgeistert angestarrt. Er zog die Stirn kraus und fragte verständnislos: „Was???“