Zigarettenpause. Clara und Jeanne warten, bis Hans das Auto repariert hat. Kurze Momente der Ruhe in DIE INNERE SICHERHEIT
Modelle. Semiotische Dramaturgie
Es gibt bei Petzold eine Art semiotischer Dramaturgie. Da ist zunächst das sprachliche Zeichen, der verbal gesetzte Hinweis. Dann kommt die Gestik und Mimik hinzu, die dem sprachlichen Zeichen, den Worten oft widerstreitet, wobei wir meistens als Meta-Beobachter beide Sphären überblicken und in der Differenz der Perspektiven erschließen können, was wie vorgetäuscht wird. Man denke an die Diebstahl-Szene im Supermarkt zu Beginn von WOLFSBURG oder an das Casting in GESPENSTER oder an die Verhandlungsszenen in YELLA. Noch interessanter wird es, sobald die spezifisch filmische Ebene mit Montage und Kameraarbeit hinzukommt. Dann entsteht eine weitere Meta-Perspektive, die die Zuschauer leichter identifikatorisch umfängt. So entstehen Potenzierungen von Deutungen. Auch die Montage kann, wenn etwa die Blickachsen entsprechend verschoben werden, zu einem Zeichen werden. Es entstehen aber bei Petzold unterschiedliche Ontologien von Zeichen: Die verbale, die schauspielerische, die filmische Ebene haben jeweils eine andere Reichweite von Ausdrucksformen und interferieren miteinander. Das etwa kann die Literatur nicht, wenngleich das Verfahren literarisch ist. Man kennt es von Jean-Luc Godard und Alexander Kluge, aber Petzold nutzt es ganz selbstverständlich zum Erzählen, vielleicht vergleichbar mit Robert Bresson27. »An den Bruchstellen der Handlungsstränge, besonders um die Vorgeschichten und Fortgänge der Geschichten, liegen Leerstellen, die in Petzolds Filmen in den seltensten Fällen aufgelöst werden. Die Lebenslinien der Figuren kommen aus dem Nichts und verlaufen sich im Ungewissen.«28 Diese Leerstellen gekonnt zu bedeuten, anzeichenhaft zu umtänzeln, das ist Petzolds Kunst.
Cinephilie, Erinnerung, Geschichte als Gegenwart
Seine Filme explizieren kinematografische Erinnerung und bilden einen »cinephilen Echoraum«29, wie Jaimey Fisher es nennt. Sie sind zugleich Fortführungen von Arbeiten, auf die sie sich beziehen, mediale Erinnerungen und Hommagen an die Großen des Kinos, natürlich an Alfred Hitchcock, Jean-Luc Godard, Yasujirō Ozu, Alan J. Pakula, an den wöchentlichen TATORT, den POLIZEIRUF 110 und an die vielen anderen deutschen Kommissar-Serien, aber auch an das amerikanische Kino und das Global Cinema. Visuell, verbal, im schauspielerischen Gestus beziehen sie sich auf die Filmgeschichte als einen kollektiven Gedächtnisraum. Man kann diese Arbeiten in dieser Hinsicht als eine Art cineastisches Übungsfeld filmgeschichtlicher Imagination begreifen, muss es aber nicht. Auch ein nichtakademisches Publikum wird sich mit den Protagonisten identifizieren können. YELLA beispielsweise lässt sich als Auseinandersetzung mit Hitchcocks Ästhetik lesen, wie es Brad Prager30 machte, und sehr viel spricht aus filmästhetischer Sicht dafür. Alternative Lesarten sind aber ebenso möglich. Die für die Postmoderne charakteristische plurale Rezeption gilt auch hier. Sie ist die Bedingung von Petzolds Arbeiten. YELLA ist auch ein Film über die (Alp-)Traumwelten einer unangepassten Sekretärin.
Das Thema der (Wieder-)Erinnerung ist jedoch ebenfalls innerhalb der Handlungswelten Petzolds zentral. Als Barbara ihren ersten Arbeitstag nach der Versetzung in das Provinzkrankenhaus hinter sich hat, fährt sie André mit dem Auto nach Hause. Sie ahnt, dass sie von der Stasi überwacht wird. Gerade das Ausbleiben der Frage, wo sie wohne, wird in ihrer Kurzzeiterinnerung zum Verdacht, den sie artikuliert:
Barbara: An der Kreuzung hätten Sie mich fragen müssen.
André: Was?
Barbara: Rechts oder links.
Jetzt versteht André.
André: Aber wir sind doch richtig!
Barbara schaut ihn nicht an. Schaut nach vorn. Schüttelt den Kopf.31
Dass André so tollpatschig ist und schon beim ersten Gespräch zu zweit aus Verliebt-Sein vergisst, dass er den Unwissenden spielen müsste, macht ihn durchaus sympathisch. Diese Interferenzen zwischen Faktizität und Potenzialität, Wahrnehmung, Erwartung und Erinnerung sind Petzolds narratives Terrain. Sie bilden den Kern seiner probabilistischen Dramaturgie. Was wirklich geschehen ist, wissen wir nicht, es wird – etwa in YELLA – gespensterhaft undeutlich. Dies sind probabilistische Narrative, die wir von Akira Kurosawas RASHŌMON (RASHOMON – DAS LUSTWÄLDCHEN, 1950) kennen, dessen Dramaturgie des Perspektivenwechsels in dem Großprojekt DREILEBEN benutzt wurde, und die ihrerseits in William Faulkners Schall und Wahn (The Sound and the Fury, 1929) einen Vorläufer hat.
Wie in Fortführung von Harun Farockis NICHT OHNE RISIKO (2004) ist es dem Menschen eigen, vor allem die Sprache als ein Verschleierungs- und Manipulationsinstrument erster Güte zu benutzen. Wenn auch die Realität dadurch wie hinter einem Vorhang verschwindet, so zeichnen sich doch die Charaktermerkmale der Protagonisten durch dieses Fading und das aktive Ausblenden-Wollen von Zusammenhängen umso deutlicher ab, weil es immer brüchig ist und verräterisch.
Ein Kontinuum verläuft von der alltäglichen Fehlleistung, zur Realitätsdiffusion bis hin ins Schizoide und Paranoide. Das erinnert wiederum an Ingmar Bergman. Barbara sehen wir wie eine Fremde mit nassem Haar im Bad sitzen, direkt nachdem sie die Tür ihrer schäbigen Wohnung öffnete. Schon in DIE INNERE SICHERHEIT gibt es zahlreiche dieser Momente, in denen unklar bleibt, ob man eine subjektive Wahrnehmung miterlebt oder ob dies tatsächlich eine bedrohliche Situation ist, wie Schwenk hervorhebt: »Der weiße Volvo der Familie hält an einer großen Ampelkreuzung und scheint plötzlich von vier schwarzen Agentenfahrzeugen umstellt zu werden. Einer der Fahrer steigt aus. Hans glaubt, sie seien überführt und verlässt mit erhobenen Händen das Auto. Für ungefähr zwei Sekunden steht er dem fremden Mann gegenüber. Doch genauso plötzlich, wie sich die Fahrzeuge an der Ampelkreuzung positioniert haben, setzen sie nun ihre Fahrt fort. […] Das befremdliche Ereignis erklärt sich nicht, entfaltet aber dennoch eine bedrohliche Atmosphäre, da es in seiner Rätselhaftigkeit wie eine versteckte Warnung erscheint.«32 Ähnlich handeln die Polizisten zu Beginn von WOLFSBURG, als sie die Nachricht vom Unfall ihres Kindes überbringen, zunächst aber Laura beim Stehlen zu erwischen scheinen.
Ebenso wie Petzold mit der Erinnerung umgeht so auch mit der Erwartung. In allen seinen Filmen geschieht etwas mit den Handelnden, das sie aus der Bahn wirft. Der so sachlich gefilmte Alltag wird unvorhersehbar. Dann unternimmt Petzold aber Experimente mit der erzählten Welt wie mit der Erzählweise gleichermaßen. Manchmal wissen wir nicht, ob das geträumt ist. Und auch die Wege von einer zerbrochenen Taucherfigur zu einer Beinverletzung verlaufen labyrinthisch, wie in UNDINE. Es bleibt stets uneindeutig, weil auch die Prämissen des Erzählens und Darstellens innerhalb des Films variieren und in Frage gestellt werden.
In einigen Arbeiten, so in TRANSIT und PHOENIX, stellt Petzold die Geschichte dar, aber nicht als Vergangenheit, sondern als Gegenwart, als Déjà-vu-Erlebnis. Was wirklich war, interessiert nicht. Eher ist Petzold einer, der warnt, dass die katastrophische Geschichte wiederkehren könnte, ganz ähnlich wie dies Walter Benjamin in den Thesen Über den Begriff der Geschichte dachte. Er stellt durch dieses Changieren zwischen den Zeiten die provokante Frage, inwiefern Überwachungsformen der Vergangenheit den heutigen ähneln.
Romantische Motive
Der romantische Mythos der UNDINE findet sich aber in Form des In-das-Wasser-Gehens oder des Aus-dem-Wasser-Rettens