Geschundene Körper. Sexualität und Scham. Frau und Mann
Wenn diese ungewollte Ablösung vom Leib in der Gespensterhaftigkeit nicht geschieht, kein Zwischenraum entsteht, so wird der Körper geschunden, meistens aus Preis des Eigensinns, aufgrund der Unangepasstheit malträtiert, oftmals auch autoaggressiv, vor allem die Körper der Frauenfiguren. Besonders deutlich wird dies bei YELLA. Hier ist die Last der Arbeitssuche in Form von Augenringen Nina Hoss bereits ins Gesicht geschminkt. Ihr Name wird regelrecht zum Fluch, weil er nur vom Stalker Ben aufgerufen werden muss, um Angst auszulösen. YELLA hat die Dramaturgie eines in die Realität hineinwuchernden Jump-and-Run-Videospiels, das der Protagonistin zusetzt, weil sie es als leiblichmaterielles Wesen nicht bestehen kann. Sie hat kein psychisches Problem, sondern die gestörte Wahrnehmung gehört zum Alltag einer Buchhalterin in Zeiten der Private-Equity-Unternehmen. Großartig ist die Szene, in der der frühere Chef ihr hinter einem Busch, aus dem Versteck, hervorwinkt, weil er sie bitten muss, Geld aus dem gepfändeten Büro zu entwenden. Ist es bei den Frauen der krankhaft werdende, zerfallende, operierte und sich nicht fügende Körper, so bei den Männern das Stigma. Es kann, wie in TOTER MANN, das Stigma der Fettleibigkeit sein, wie in JERICHOW das des sichtbaren Fremden, bei POLIZEIRUF 110: WÖLFE (2016) das der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte oder des lädierten Körpers in UNDINE. Wer aufrichtig ist und ohne Makel, wie Dr. Gunthen (Burghart Klaußner) in YELLA, nimmt sich das Leben.
In vielen deutschen Filmen, gerade in Fernsehfilmen, überspielen die Figuren ihre Misere. Sie lächeln, weil man es von ihnen verlangt, ungeachtet der Situation, in der sie stehen. Die dargestellten Figuren sind insofern schon Schauspieler ihrer selbst, bis der Konflikt ausbricht. Bei Petzold ist das anders. Nina Hoss lächelt auch zu Beginn von BARBARA nicht aus Höflichkeit. Dass sie sich nicht anpassen will, ist gesetzt und macht ihre Gestik zu einer Gratwanderung. Ihre Unangepasstheit zeigt sich nicht in den großen Gesten oder dem Protest, sondern in habituellen Miniaturen und Mikrogesten, in ihrer Intellektualität, die alles kontrolliert. Dadurch stockt auch die Erzähldynamik. Denn jeder gestische Ausdruck intendiert wie bei einem versierten Schachspiel einen Gegenzug bereits als Potenzial. Petzold setzt da an, wo andere aufhören, und inszeniert dieses Spiel der libidinösen Kontrolle achtungsvoll.
Ausgiebig widmen sich seine Filme auch der Frage, wie wenig die weibliche Emanzipation in die unteren Schichten diffundiert. Dass sie dort, bei dem Zulieferer für Döner-Buden und der Servicekraft im Supermarkt, bei dem Waisenmädchen, das im Heim lebt, und dem Zimmermädchen im Hotel sich ganz anders (nämlich gar nicht) äußert und von anderen ökonomischen wie gesellschaftlichen Machtfaktoren überlagert wird, zeigt Petzold ganz direkt. Eine Untersuchung der Gender-Perspektiven bei Petzold wäre so lohnenswert wie aufwendig. Klar ist, dass in diesen Filmen die Mainstream-Blickformen weder übernommen noch provokative Gegenbilder dazu geschaffen werden. Petzold verschiebt männliche und weibliche Perspektiven, verkehrt sie manchmal, doppelt und bricht sie. In einem Interview heißt es: »Die Wünsche von Frauen sind andere als meine, und das war für mich interessant. Sie reden anders miteinander, mit einer anderen Sinnlichkeit. Ich kann mich nicht komplett hineinversetzen. Ich kann zuhören, empathisch sein, aber ich kann nicht identifikatorisch sein.«18 Vielleicht ist es aber genau diese Emphase, beide Geschlechter verstehen zu wollen, die Petzolds Filme so attraktiv macht.19
In vielen Beispielen sind es die feinen Unterschiede, die sich in der Schicht-Zugehörigkeit äußern und die einer Liebe im Weg stehen. Johannes und das bosnische Zimmermädchen Ana leben ihre Lust aus. Sie haben aber gegenüber dem listigen Dr. Dreier (Rainer Bock), der ihn wieder mit der Ex-Freundin Sarah verkuppeln will, keine Chance. Es genügt eine Einladung zur Geburtstagsparty im Golf-Club, damit es zu einem Streit zwischen Ana und Johannes kommt.
Ana: Komm, wir müssen da hin!
Johannes: Nein, das ist doch peinlich.
Ana: Was ist peinlich?
Johannes: Na, alles. Die mit ihren blöden Gönnerposen, das kotzt mich an.
Ana: Bin ich peinlich?
Johannes: Wie kommst du denn jetzt darauf?
Ana: Dann lass’ uns dahin gehen. Wir machen uns schön und wir werden Spaß haben.
Johannes: Nein!
Ana: Bin ich dir peinlich?
Johannes: Nein.
Ana: Johannes, bin ich dir peinlich?
Johannes: Nein!
Ana: Doch!
Später auf der Party wird der Streit tatsächlich eskalieren, aber bereits hier zeigt Petzold, dass aus einer Vorahnung ein Konflikt entsteht. Letztlich ist die Scham davor, den Ansprüchen und Erwartungen der gesellschaftlichen Schicht nicht zu entsprechen, der Auslöser des Konflikts wie das Band, das Johannes und Sarah zusammenschweißt.20 Ana weiß nicht, wovor sich Johannes fremdschämt oder welches erwartete Verhalten sie nicht aufführen kann. Was Petzold hier zeigt, ist Responsivität bzw. sind responsive Konfliktfelder. Wie immer lässt sich Scham schwerlich diskursivieren. Die Romeo-und-Julia-Geschichte wirkt so glaubhaft, weil Petzold sich Zeit nimmt und den jungen Schauspielern vertraut. Die Körperlichkeit und das sinnliche Ausleben der Sexualität mit Ana (das vor allem in Hochhäuslers DREILEBEN-Folge kurz angedeutet wird) ist durch den Konflikt gegenüber der bürgerlichen Mittelschicht, aus der Johannes kommt, belegt. Die Montage deutet das in den Kussszenen an, indem sie den Bildraum spiegelbildlich zweiteilt, anstatt die identifikatorische Sicht einzunehmen.21
Autofahrten
In einem Petzold-Film fahren die Menschen Auto.22 Anders als gewöhnlich erfüllt die Fahrt aber keine dramaturgisch-narrative Brückenfunktion, sondern ganze Schlüsselszenen spielen sich im Inneren des Fahrzeugs ab: »Das Auto als Lebensraum stellt seine Insassen einander in minimalistischer Klarheit und Präsenz gegenüber.«23 Die moderne Welt wird fahrend erlebt. Das Auto ist hier mehr als ein Fortbewegungsmittel. Es bildet eine autochthone Erzählwelt mit eigenen Regeln. Es ist eher eine Wahrnehmungsprothese und wird zu einem intimen Ort, ist »eine erotische Kapsel«24. Schon der Klang der Stimme ändert sich, die Landschaft fließt nach Belieben vorbei. Wenn Clara (Barbara Auer) und Hans (Richy Müller) in DIE INNERE SICHERHEIT ins Auto steigen, fliehen sie vor der Polizei und werden zugleich zur kleinbürgerlichen Familie, die in Urlaub fährt. Das Auto ist eine Kapsel, die die Außenwelt akustisch dämpft, entrückt und die Sinne betäubt, wo der Blick stier wird und immersiv, vor allem im städtischen Verkehr. Sprechen mit dem Anderen vollzieht sich, indem man die Aufmerksamkeit spaltet und ihn nur für Sekundenbruchteile anblickt. Dabei ist die Wahrnehmung zersplittert und man muss während des Navigierens die Welt im Blick behalten, selbst in den Rückspiegeln, was Petzold ausgiebig zeigt. Edmund Husserl beschrieb einmal eine Wagenfahrt in Ding und Raum phänomenologisch vollkommen treffend als eine perzeptive Möglichkeit, die Landschaft an sich vorbeiziehen zu lassen.25 Darin liegt eine Allmacht. Das Auto lässt uns die Stadt und die Landschaft technisch, bildhaft fühlen, indem es sie in Bewegung versetzt. Es ist dies ein Geschwindigkeitseffekt des Subjekts, der alles Äußere unterordnet.