Das Zwillingsparadoxon. Ron Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ron Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658210
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in der Pflegeeinrichtung passiert ist. Wir wissen kaum etwas über den Unfall und wir kennen Ihren Vater nicht. Und die Sache mit den Patienten, die mit ihm gestorben sind, lässt sich gar nicht einordnen.«

      »Dann sind wir ja bereits zwei, für die das keinen Sinn ergibt.« Hennings Hauptinteresse lag noch immer bei den Algen, die wie weiche Haare in der Strömung trieben.

      »Ihr Kontakt zu Doktor Geiger war nicht der beste?«

      »Können wir es dabei belassen?«

      »Henning, wir haben einige Informationen über die laufenden Vernehmungen und wir erhalten Nachrichten Ihres Vaters, die wir regelmäßig drucken. Er hatte das zu Lebzeiten sichergestellt. Die erste Notiz haben Sie ja sicher mitbekommen. Wir beide könnten uns ergänzen.«

      »Wie war noch mal Ihr Name?«

      »Martin.«

      »Gut, Martin. Reden wir Tacheles.« Henning angelte mit einer überdimensionalen Pinzette ein leeres Schneckenhaus aus dem Becken, dessen Außenwände sich aufzulösen begonnen hatten. »Es interessiert mich nicht! Wirklich! Das können Sie so auch gern drucken. Ich habe mit der Sache abgeschlossen und ich finde, eine Beerdigung ist ein guter Abschluss. Dementsprechend wird das Thema von mir nicht mehr aufgemacht. Sehen Sie sich in der Lage, das zu akzeptieren?«

      »Aber es sind Menschen gestorben, bei dem, was Ihr Vater in der Einrichtung gemacht hat.«

      »Sie sagen es. Es geht um meinen Vater, nicht um mich.«

      »Sie müssen doch ein Interesse daran haben, zu wissen, was da gelaufen ist.«

      »Lassen Sie mich damit in Ruhe! Schnappen Sie sich am besten einen Nachbarn und befragen den, so wie Sie es vorgehabt hatten.«

      »Kommen Sie, Henning.«

      »RAUS!«

      12

      Henning betrachtete die Roséflasche, die er vor vier Tagen in einer kleinen Drogerie gefunden hatte. Zufällig hatte er sich seinerzeit in der Leipziger Straße aufgehalten. Eine Gegend, zu der ihm grundsätzlich der Bezug fehlte. Die Weinabteilung war unerwartet – nicht nur vorhanden, sondern auch ganz ordentlich. Wahrscheinlich hatte er mit dem Bardolino ein Exemplar gegriffen, das vorwiegend weibliche Käufer fand. Getöntes Glas mit Schmetterlingen darauf und ein tief rosafarbener Ton, der sich erst voll entfaltete, wenn man den Wein gegen das Licht hielt. Kaufentscheidend war die Rückseite. Trocken, fruchtig und ein Rosé, was im Sommer durchaus Sinn ergab. Henning hatte immer mal wieder Phasen, in denen er eine Abwechslung zum Bier brauchte.

      Neuneinhalb Prozent, kein Wunder, dass er nicht dreht. Henning schenkte der leeren Flasche keine Beachtung, während er überlegte, ob er sich noch eines der Plasteflaschenbiere aus dem Discounter genehmigte.

      Auf seinem Handy leuchtete der Name Steve auf. Er ignorierte ihn. Stattdessen kramte er im Gemüsefach des Kühlschranks nach dem Bier. Erneut schellte es.

      Es war selten, dass Steve mehrfach anrief.

      »Ja?!«

      »Du Pisser!«

      »Was?« Henning konnte sich nicht erinnern, dass ein Gespräch mit seinem Bruder jemals so angefangen hatte.

      »Was hast du mit Vater am Laufen gehabt?«

      »Komm mal runter, Junge.«

      »Einen Teufel werd’ ich.«

      »Einen Teufel werd’ ich«, äffte er ihn nach.

      »Sag mir, warum Mutter enterbt wurde!«

      »Weiß ich doch nicht.«

      »Genau. Wenn du das nächste Mal im Dunkeln vor die Tür gehst, solltest du dich vielleicht einmal mehr umdrehen.»

      »Alter, was soll der Scheiß?«

      »Das bereust du!«

      »Leck mich doch!« Henning beendete das Gespräch. Ihm fehlte der Nerv, sich mit seinem hysterischen Bruder auseinanderzusetzen. Es brauchte auf dem Telefon drei Displayberührungen, um die gespeicherte Nummer der Mutter anzuwählen.

      »Inge?«

      »Was willst du?«

      »Ich hatte Steve eben in der Leitung. Der dreht völlig durch.«

      »Henning, solange ich nicht weiß, was zwischen euch und Vater gelaufen ist, habe ich keine Lust zu telefonieren.«

      Was zwischen MIR und Vater gelaufen ist, meinst du wohl eher, hatte er auf der Zunge, doch bevor er es in Worte bringen konnte, hatte Inge aufgelegt.

      13

      Hennings Finger flogen wütend über das Touchpad.

      Scheiß Familie!

      Vor einigen Tagen noch konnte er von sich sagen, dass ihn sein Vater nicht im Geringsten interessierte. Das ließ sich nun nicht mehr behaupten. Nicht, dass sich seine Beziehung zu ihm mit dessen Tod verbessert hätte, es standen inzwischen nur zu viele Fragen im Raum – ein Defizit, mit dem Henning noch nie umgehen konnte.

      Er kramte in älteren Nachrichten, auf der Suche nach der E-Mail-Adresse seines Vaters. Anfang des Jahres hatte er ihm ein Dokument geschickt. Welches, war nicht von Bedeutung. Er brauchte nur die Adresse.

      Yahoo war es nicht. Googlemail gab es vermutlich noch nicht, als er ihm den Account damals eingerichtet hatte. dr.oswald.geiger, soviel wusste er. Nur die Endung bekam er nicht mehr ins Gedächtnis.

      Bis er sie fand.

      [email protected]

      Anmeldung.

      Passwort vergessen.

      Sicherheitsfrage.

      Der Laptop brauchte einige Sekunden, sie anzuzeigen.

      Geburtsname der Mutter?

      Oswald Geiger hatte selten E-Mails geschrieben. Er nutzte sein Postfach nur, um wichtige Dokumente hochzuladen und sie nicht zu verlieren, falls es wieder so ein heißer Sommer wie 2014 würde oder ein beliebig anderer Grund seinen Praxisrechner auf dem Gewissen haben könnte. Es hatte den angenehmen Vorteil, über die Unterlagen an praktisch jedem Ort mit Internet verfügen zu können.

      Schillack.

      Neun Buchstaben und Henning befand sich im Postfach des Vaters. Nachdem die Polizei den PC aus der Arztpraxis sichergestellt hatte, wäre dies der einzige Weg, in Erfahrung zu bringen, warum die ganze Familie gerade verrückt spielte.

      Die zuletzt hochgeladene Datei war ein Protokoll. Henning überflog es. Fachchinesisch. Er brauchte einen Arzt, der ihm dabei half. Er würde sich einen suchen und hatte bereits jemanden im Hinterkopf.

      Er klickte auf das vorletzte Dokument, das auf einem der Web.de-Server lag. Ein kurzer Bericht des Vaters von einem Tag, dessen Datum sich nicht mehr nachvollziehen ließ.

      Ich musste innehalten, mich am Geländer abstützen. Gleich sollte es wieder gehen. Nur einen Augenblick.

      Alles um mich machte den Eindruck, als zöge urplötzlich die Geschwindigkeit an. Menschen unterhielten sich. Doch die Worte fielen ihnen viel zu schnell aus dem Mund, sodass es mir nicht gelang, sie zu Sätzen zusammenzusetzen.

      Nur waren es nicht allein die Menschen, denn diese Beschleunigung betraf ausnahmslos jedes Detail, jede Bewegung.

      Wolken schossen über den Himmel, aber es stürmte nicht. Ein Feuerzeug flammte auf und erlosch wieder, als es die Hitze an eine Zigarette weitergegeben hatte. Zu schnell für mein Auge. Ich sah es nicht, obwohl ich in die Richtung starrte, registrierte nur, wie die Frau Qualm ausstieß, die bis eben noch in ihrer Tasche nach etwas gesucht hatte.

      Ein Rollladen fiel. Ich schaffte es nicht den Kopf rechtzeitig zu drehen, um einen Rest davon mitzubekommen.

      Der Ort, an dem ich mich befand, hatte ein Mehrfaches von der Geschwindigkeit aufgenommen,