»Seine Gebete gehen an seine Frau und vor allem an seine Söhne«, sagte der Mann neben dem Sarg, dessen doppelter Windsorknoten wie aus dem Bilderbuch schien.
Was für ein aufgesetzter Mist. Henning empfand keine Wut. Die Inszenierung war schlichtweg lächerlich.
Oswald Geiger hatte seine Grabrede vorformuliert. Nicht einmal jetzt konnte er Dinge anderen überlassen. Als hätte er Angst gehabt, dass jemand an diesem Tag aus dem Nähkästchen plauderte. Nicht ganz unbegründet, da ihm die nächsten Angehörigen ziemlich egal gewesen waren, und sein älterer Sohn nicht grundlos zwei Jahre lang jeden Mittwoch beim Therapeuten gesessen hatte.
»Seine Gebete gehen an seine Frau«, äffte Henning den Redner nach. Gebete!
Mit der Kirche stand der Vater zeitlebens auf Kriegsfuß. Warum wohl hielt kein Pfarrer die Rede, sondern der Inhaber des Bestattungsunternehmens? Letzterer hatte bereits die halbe Familie unter die Erde gebracht.
Wenn man sich in dieser Gegend Brandenburgs für einen Bestatter entschied, dann baute man eine seltsame Beziehung zu ihm auf, die erst endete, wenn er aus dem Amt ging oder in der Familie niemand mehr übrig war. Man grüßte sich in der Stadt, unterhielt sich intensiver, wenn eine Beerdigung anstand, achtete aber grundsätzlich darauf, den Kontakt so gering wie möglich zu halten, damit das Verhältnis zwischen zwei Todesfällen ausreichend abkühlen konnte, und man getrost auch nach dreißig Jahren noch beim Sie bleiben konnte.
Eine halbe Stunde später war es an der Zeit, den Verstorbenen an seinen letzten Ort zu bringen. Die Gäste erhoben sich. Martin tat es ihnen gleich, allerdings ohne mit den Gedanken bei der Sache zu sein. Er grübelte.
Die Arbeit in der Redaktion war für ihn seit der Geburt seiner Tochter stressig geworden. Er hatte es sich einfacher vorgestellt, Frau, Säugling und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Früh zur Arbeit gehen und erst nach zwanzig Uhr heimzukommen ging jetzt nicht mehr, ohne den Haussegen zu gefährden. Er brauchte ein anderes Zeitmanagement.
Vielleicht sollte ich mir an den Nachmittagen zwei, drei Stunden für die Familie frei halten und ab halb sieben regelmäßig eine Spätschicht einlegen?!
Der Gedanke tat gut, denn er zeigte, dass Martin noch Alternativen hatte – und Alternativen waren zwingende Voraussetzung für seinen Optimismus.
Langsam ließ er sich an das Ende des Trauerzugs zurückfallen und bog schließlich Richtung Parkplatz ab.
6
Am Morgen kam ein Funkwecker seinem Hauptzweck nach. Er klingelte. Im Laufe der letzten Monate hatte sich genügend Wut über den furchtbaren Klingelton angestaut, dass Hennings Hand den Wecker ausschlug, bevor er Gelegenheit bekam, ein zweites Mal zu plärren.
Er schlurfte ins Bad. Starrte dort erst verschlafen ins Leere, stützte dann die Arme auf den Rand des Waschbeckens und betrachtete sich im Spiegel.
Gott, seh’ ich fertig aus.
Er hatte furchtbar geschlafen. Sonst war das der Fall, wenn er jemand zum Vögeln gefunden hatte und auswärts nächtigte.
Henning ging davon aus, beziehungsunfähig zu sein, weil Frauen ihn in der Regel schon bei der zweiten Verabredung langweilten oder er recht schnell eine andere fand, die im direkten Vergleich mit der Aktuellen besser abschnitt. Eine von ihnen mehrmals zu treffen, strahlte obendrein die Bedrohung aus, sich ihr verpflichtet zu fühlen und mehr Zeit zu investieren, als ihm eine Frau wert war. Also vermied er es und suchte sich regelmäßig etwas Neues.
Er hatte Falten bekommen. Keine tiefen, aber erstaunlich viele. Man sah sie besonders, wenn er die Augen zusammenkniff.
Während Henning sich betrachtete, wurde er den Verdacht nicht los, allmählich einen verlebten Eindruck zu machen.
Er verließ das Bad, machte einen Abstecher in die Küche und steuerte auf das Sofa im Wohnzimmer zu, wo er in Ruhe einen oder zwei Kaffee trinken konnte, um auf Betriebstemperatur zu kommen.
Für gewöhnlich war das der Zeitpunkt, an dem Schröder ihren Schlaf für beendet erklärte, und nach längerer Streck- und Dehnungsprozedur neben ihm auftauchte. Morgens zeigte sie sich noch recht loyal und ließ sich ausgiebig kraulen, ohne die Gefahr, dass sie nach der Hand beißen oder die Krallen darin versenken wollte – wie sie es alle paar Tage tat.
Schröder machte ihr eigenes Ding und schien grundsätzlich nicht viel von ihrem Besitzer zu halten. Ein Zustand, mit dem Henning sich meistens arrangierte. Bis ihm gelegentlich mal der Kragen platzte. In der Regel hatte die Katze dann irgendwo herumgelegen, vermeintlich schlafend, und während er an ihr vorbei ging, fauchte sie und verpasste ihm urplötzlich einen tiefen Schmiss am Bein. Sekunden später konnten ihn die Nachbarn im ersten Stock des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Katze jagen sehen, welche offensichtlich Opfer eines Vergehens gegen das Tierschutzgesetz werden sollte. Doch den Beteiligten wurde schnell klar, dass diese Versuche aussichtslos waren, da Henning nicht die Fitness und Reaktion besaß, sie zwischen die Finger zu bekommen.
Das alles lag einige Zeit zurück. Henning war seit Tagen allein in der Wohnung. Es war anders seitdem. In der ersten Zeit, nachdem er Schröder weggegeben hatte, ertappte er sich dabei, wie er immer wieder kurz davor war, nach ihr zu rufen. Die neue Situation brauchte noch eine Weile, bis er sich ihrer ständig bewusst war.
Er umklammerte einen Becher Kaffee, stand barfuß auf den Flurdielen und sah in die einzelnen Zimmer. Still war es geworden. Nicht, dass die Katze dauernd Geräusche von sich gegeben hatte, aber durch sie war er nicht gezwungen, einzig auf seine eigene Gesellschaft angewiesen zu sein. Immer mal wieder, wenn sie an ihm vorbeigeschlichen war, hatte er die eine oder andere Bemerkung gemacht oder ihr über den Rücken gestreichelt. Nicht viel, aber dennoch kurze Kontakte, die die Zeit teilten, die er in der Wohnung verbrachte.
Henning schlürfte vom Kaffee.
»Viel zu stark«, murrte er in sich hinein und ärgerte sich eigentlich nur darüber, jetzt so nah bei sich zu sein.
Eine halbe Stunde später stand er kurz davor, sich auf den Weg zum Haus seiner Eltern zu machen. Hennings Hand griff nach einem Schlüsselbund, dem Portemonnaie und vergaß das Handy auf dem Flurschrank. Nach wenigen Schritten waren die Utensilien in seinen Hosentaschen verstaut und die Wohnungstür erzeugte das gewohnte Geräusch, wenn sie ins Schloss fiel. Es ließ sich Angenehmeres vorstellen, als gleich eine völlig verheulte Familie anzutreffen. Ändern konnte er sowieso nichts an deren Zustand – nur sie jetzt allein zu lassen, war auch kein gangbarer Weg. Also zog er den Helm über und trat die KTM an.
Im 18. April 1901 beobachtete Duncan MacDougall einen an Tuberkulose erkrankten Mann. Drei Stunden und vierzig Minuten ließ er ihn nicht aus den Augen. Bis er starb. Er hatte ihn auf eine Pritsche legen lassen, die an einer Waage von der Decke hing. Jede Stunde verlor der Proband achtundzwanzig Gramm, was man auf Verdunstung zurückführte.
In den Sekunden, als er entschlief, fehlten drei Viertel einer Unze. Einundzwanzig Gramm, die MacDougall auf nichts anderes als die Seele des Verstorbenen zurückführen konnte.
Dritter Teil
Wie gern würde ich behaupten, dass ich mit der Zeit freundschaftlich verbunden wäre, doch nur zu gut weiß ich, dass dies hieße, dass ich dem Tod den Weg ebne.
7
Entschuldigung.« Julia lugte vorsichtig hinter dem Türrahmen hervor. Sie war Anfang zwanzig und noch nicht lange bei der Zeitung.
»Was ist?« Jakob, seit Jahren leitender Redakteur des Blattes, blickte nicht einmal vom Bildschirm auf.
»Da möchte Sie ein Mann am Telefon sprechen.«
»Wer?« Jakob sparte sich die Frage, warum sie den Anrufer nicht gleich durchgestellt hatte. Julia vertrat seine dauerkranke Assistentin seit vergangenem Freitag