Zwischenspiel #1
„Ihr bemerkt, dass Gunthár immer noch Schulmeister ist.“
„Ja klar, das wird deutlich und noch mehr: Gunthár ahnt, dass sein Schicksal nicht nur von Zufälligkeiten abhing, sondern Bestimmungen unterlag, deren Urheberinnen für ihn natürlich nicht fassbar sind.“
„Ich stimme dir zu, es ist doch wunderbar, wenn der Mensch an Fügungen glaubt, meine aber, dass es auch echte Zufälle im Menschenleben gibt, auf die wir keinen Einfluss haben.“
„Die gibt es in der Tat, aber nur, weil wir sie zulassen. Kleinigkeiten gehen uns nichts an. Was meinst du, Skuld?“
„Selbstbestimmung ist ein hohes Gut, doch ich erkenne darin immer mehr einen müden Ausdruck vielfältiger Bedürfnisbefriedigung oder auch nur ein leeres Wort. – Zurück zu Gunthár: Ihm ging es nicht vordergründig darum, sein Leben selbst zu bestimmen, er ließ die Dinge meist auf sich zukommen, fügte sich oft, griff auch mal ein, geringfügig, eben ganz menschlich und lebte glücklich, weil es uns gibt. Wir weben und wissen genau, was gut für ihn ist. Und ich stehe nun vor der schweren Aufgabe, festzulegen, was die Zukunft noch bringen soll. Gunthár ist immerhin 80 Jahre alt und hat ein erfülltes Leben hinter sich.“
Sie unterhalten sich weiter, und Urd beschwört die Vergangenheit herauf; ihr Brunnen plätschert munter dazu wie schon in uralter Zeit. Doch die Weltesche oben beugt sich im Sturm. Im Wurzelbereich herrscht Ruhe. Nidhögg nagt still am Wurzelgeflecht, Ratarösk läuft wieselflink den mächtigen Stamm hinauf, stoppt abrupt, schaut kurz zurück und bewegt sich zackig weiter, mal linksrum, mal nach rechts, Schimpf und Zank im Gepäck.
2. Kapitel: Jugend im Osten
Tief gelegenes, fruchtbares Land im Weichsel-Nogat-Delta umgibt Nowy Dwór Gdanski. Ein feuchter Nordostwind streicht über die Ebene und lässt Menschen frösteln.
1916 hieß diese Kleinstadt Tiegenhof und gehörte zum westpreußischen Kreis Marienburg. Nach Ende des ersten Weltkriegs wurde Tiegenhof Kreisstadt des neu gebildeten Landkreises Großes Werder, der dann mit zwei weiteren Landkreisen das Hinterland der Freien Stadt Danzig ausmachte. Dieses Gebiet wurde nach dem Frieden von Versailles zu einem selbstständigen Staat unter der Oberhoheit des Genfer Völkerbundes, vom deutschen Mutterland gänzlich abgetrennt. Vergeblich protestierten die Bewohner Tiegenhofs, sie waren nicht gefragt worden. Auch Vater Schalkowskis Protest verhallte. Er war nicht so massiv ausgefallen, seine Frau und der gelernte Kaufmann betrieben gerade Nestbau und Brutpflege: Die Kinder hießen Elfriede, Kurt, Irmgard und Günther, das älteste. Johanna, starb im Alter von zwei Jahren.
Die recht verworrenen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten bildeten den Hintergrund der Kinder- und Schulzeit Schalkowskis. Die evangelische Grundschule und das Realgymnasium sorgten für umfassende Allgemeinbildung und prägten das Werden und Wachsen des Jungen. Besonders seinem Deutschlehrer in der Oberstufe, Studienrat Hans Schrader, gelang es, Schalkowski für Literatur zu begeistern. Er schätzte die poetischen Realisten Wilhelm Raabe, Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller; Theodor Storm wurde sein Lieblingsdichter. Seinem Musiklehrer Hugo Ernst verdankte er den Zugang zu klassischer Musik, die Balladenvertonungen von Karl Loewe gefielen ihm über alle Maßen. Ernst brachte ihm auch das Bratschespielen bei, so dass er im Schul- und auch später im Hochschulorchester einigermaßen mitwirken konnte.
Rückblickend bezeichnete Schalkowski seine Kindheit und Schulzeit als eine glückliche Epoche seines Lebens. Vieles fiel ihm zu, harte Arbeiten vermied er. Ein Stubenhocker war er nicht. Aus alten Lumpen und stabilem Bindfaden entstand ein Fußball, der „Ochsenmarkt“ wurde zum Bolzplatz. Dass der Ball nicht aufsprang und rund lief und seine Bahn kaum zu berechnen war, störte die Jungen wenig. Im Sommer tummelten sich die Freunde am Ufer des Flüsschens Tiege zwischen Raiffeisen und Ölmühle, im Winter liefen sie Schlittschuh oder rodelten vom Tiegedamm, wenn das Wetter die passenden Voraussetzungen lieferte, was in der Realität längst nicht immer der Fall war, in der Erinnerung dagegen viel häufiger.
Gleich nach dem Mittagessen liefen die vier Geschwister am Heiligabend zur Großmutter mütterlicherseits, Marie, in die Heinrich-Stobbe-Straße. Nach dem Kaffeetrinken fand hier die erste Bescherung statt. Wenn dann die Dunkelheit aufzog, kehrten die Kinder mit ihrer Oma im Schlepptau und allerlei Geschenken bepackt zur elterlichen Wohnung zurück, wo dann mit Tannenbaum, Weihnachtsliedern, Gedichten, bunten Tellern und weiteren Geschenken das Fest seinen traditionellen Verlauf nahm. Am ersten Feiertag sprach der Pastor im Weihnachtsgottesdienst den Segen Gottes.
In den Sommerferien durfte Günther seine Großeltern väterlicherseits in Danzig besuchen und genoss wenigstens einmal im Jahr den Duft der geschichtsträchtigen Großstadt, die doch so anders war als seine kleine piefige Heimatstadt, an der in Wirklichkeit sein Herz hing.
Nach seiner Konfirmation am Palmsonntag 1930 trat Schalkowski dem Evangelischen Jungmännerverein bei. Auch war er in der Bündischen Jugend aktiv und damit automatisch Mitglied der Deutschen Freischar. Seine Liebe zur Natur und die Freude an ausgiebigen Wanderungen fanden in diesen Gruppen ihre Erfüllung. Neben den Novellisten stand nun auch der „Zupfgeigenhansl“ im Regal; zahlreiche Lesezeichen zeugten von regem Gebrauch.
Der Knabe sah sehenden, aber nicht durchdringenden Auges das Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung, bemerkte ihr rapides Anwachsen; seine Jugendgruppen gingen in der Hitlerjugend auf.
So wurden Schalkowski und seine Freunde Mitglieder der HJ.
Zwischenspiel #2
„Zufall, Schicksal, Fügung oder Bestimmung, vielleicht Gottes Wille, so bezeichnet der Mensch das Aufeinandertreffen zukünftiger Lebenspartner, so dass Anziehungskräfte zu greifen vermögen. Gunthár jedenfalls wird den Zufall ausschließen.“
„Er ist bereits auf der Suche.“
„Die Liebe zu lernen, wird seine Aufgabe nun sein, Verantwortung zu tragen und sich Sorgen zu machen, immer wieder.“
„So sei es.“
3. Kapitel: Hilde – auf Umwegen
Altjahrsabend 1933/1934: Günther Schalkowski, sein Freund Werner Ude und noch weitere junge Männer zogen ausgelassen durch die Straßen Tiegenhofs. Es war windstill und trocken, Frost lag in der Luft.
„Zum Wohl!“ – „Prost!“ – „Auf die Weiber!“
Werner Ude steckte die kleine bauchige Machandelflasche zurück in seine ausgebeulte Jackentasche. Der klare Wacholderschnaps war eine beliebte Spezialität in Westpreußen. Stobbes Machandel aus Tiegenhof! Danziger Goldwasser dagegen schmeckte viel zu süß und passte nicht zu harten Jungens.
„Schau mal, wer da kommt!“
Eine Gruppe junger Mädchen kam ihnen Arm in Arm entgegen, vertieft in fröhliche Unterhaltung, sehr vergnügt, wie es schien. Nun schauten sie zu den Jungen. Schalkowski kannte sie alle bis auf ein Mädchen, das am Ende der Kette ging. Andere Tiegenhöfer Jungen kamen aus einer dunklen Seitenstraße gelaufen, nutzten den Überraschungseffekt und trennten unter Gegröle das auch ihnen unbekannte Mädchen von den Kameradinnen. Es wurde von den Jungen umringt, richtiggehend eingekesselt; die Begleiterinnen griffen verbal vergeblich ein, einige kicherten. Schalkowski und Ude blickten sich kurz an, nickten sich zu und ergriffen die Initiative. Mit ein bisschen Körpereinsatz und deutlichen Worten gelang es den Freunden, die Fremde aus der Umklammerung der anderen zu befreien. Jungen und Mädchen zogen weiter, drei bleiben zurück. Die beiden Freunde nahmen das Mädchen in ihre Mitte und übten sich in Kommunikation. Sie erfuhren, dass es Hilde heißt, in Danzig lebt und dort zur Schule geht. In Tiegenhof verlebe sie bei Verwandten ein paar Ferientage.
„Könnt ihr mich