Der Duft der indischen Nelke. Nicolà Tölcke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicolà Tölcke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750206052
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angebrochen. In Straßburg hatte ich eine ganze Stange von dem schwarzen Kraut erworben. Weder Angela noch Evelyn sind zu sehen. Die Gitanes schmeckt nicht so recht.

      Die beiden letzten Stunden heute finden im Biologieraum statt. Da ist eine andere Sitzordnung. Vor Pausenende stürme ich in den Klassenraum. Da kann ich noch schnell ungestört schreiben:

      Du hast mich gefragt, ob ich von Dir geträumt hätte. Bist Du sicher, dass Dich das interessiert? Es ist nicht einfach, jeden Tag hinter Dir zu sitzen! Dein Lächeln so aus nächster Nähe verwirrt mich komplett. Tut mir leid, wenn ich Dich vorhin Evchen genannt habe! Mal sehen, wer mich nächste Nacht im Traum wieder verzaubert …

      Ich reiße die Seite aus dem französischen Vokabelheft und falte sie zweimal.

      Ende der letzten Stunde warte ich an der Tür vom Bioraum.

      Evelyn kommt fast als Letzte. Vor ihr Angela mit fragendem Blick. In Taillenhöhe halte ich Evelyn den weißen Zettel entgegen. Sie zögert kurz. Dann nimmt sie ihn.

      „Bis morgen“, flüstere ich ihr hinterher. Warum flüstere ich eigentlich?

      Ende November hat Jörg Pfeiffer Geburtstag. Bisher hätte mich das eher kalt gelassen, denn er zählt nicht gerade zu meinen Favoriten. Doch hat er für seine Geburtstagsfete fast die ganze Klasse eingeladen. Schließlich waren alle durch die Klassenfahrt sehr viel enger aneinander gerückt. Evelyn war zwar aus unerfindlichen Gründen nicht mitgefahren, doch auf der Fete am Samstagabend sollte sie nicht fehlen. Das Briefchen schreiben mit Angela ist inzwischen fast gänzlich auf Evelyn übergegangen. Angela nimmt mir das übel. Sie spricht fast gar nicht mehr mit mir und ihr Lächeln wirkt arg gekünstelt. Dafür sind Evelyns Zeilen schon ziemlich teasing und voller kleiner Zweideutigkeiten. Einen Tag vor der bewussten Geburtstagsfeier hat sie mir eine beschriebene Seite aus ihrem Matheheft mit auf den Nachhauseweg gegeben.

      Ich habe ja keine Ahnung, was so in dir vorgeht. Aber ich finde schon, dass du es schwer haben wirst, dem Musikunterricht zu folgen, wenn du nur auf meinen nicht vorhandenen Busen guckst! Hast du gemerkt, wie unsere Musiklehrerin dich dauernd angegiftet hat? Wenn Blicke töten könnten! Du hast mich gefragt, ob ich auf Jörgs Fête komme. Warum willst Du das wissen? Angela kommt doch auf jeden Fall - mit ihrem Knut. Das ist jetzt gemein, oder? Leidest du eigentlich noch? Ich weiß aber nicht genau, ob ich kommen werde. Sei bitte nicht traurig. Oder würdest du das überhaupt sein? Ich hab‘ mir übrigens `ne neue Platte gekauft. Kommt aus Frankreich und heißt ‚Je t’aime…moi non plus‘.

      Der Samstagnachmittag will und will nicht vergehen. Anstatt Vater bei seiner Mercedes-Kosmetik unter die Arme zu greifen, gleicht mein Zimmer eher einem Raubtierkäfig, mit mir als Vorstadttiger. Space Oddity von David Bowie wechselt sich endlos mit White Room von Cream ab. Doch ist weder das eine noch das andere als beruhigende Circus-Dompteuruntermalung geeignet. Im Gegenteil. Als Folge schreit das unfreiwillige Publikum in Person meiner Mutter in immer kürzeren Abständen zu mir hoch, dass diese Dschungelmusik extrem zu laut sei.

      Zwar ist das Einfamilienhaus in der Lichterfelder Kiesstraße gewissermaßen mit vier Etagen gesegnet, also auch dank massiver Steinmauern nicht sehr lärmempfindlich, aber trotz alledem erklingen scheinbar Can you hear me Major Tom? und I wait in this place, where the sun never shines, von mir, von unterm Dach juchhe, bis in die untersten Schubladen des Hauses doch zu tonintensiv. Also kapituliere ich vor der Lautstärke-Empfindlichkeit meiner Mitbewohner und verabschiede mich in die Winterluft, nicht zuletzt, um meiner Aufregung, ob Evelyn heute Abend kommen wird oder nicht, mit einem Marsch in Begleitung unseres Irish Setters etwas Beruhigendes mit kalter Hundeschnauze entgegenzusetzen.

      „Tut mir leid, wenn ich Sie jetzt da rausholen muss!“

      Er ist wieder da. Ich hab‘ ihn überhaupt nicht kommen hören. Er setzt sich auf das Bett, drückt auf das Diktiergerät und flüstert in einer Weise, wie ich sie von Elisabeth Flickenschildt aus alten schwarzweißen Kriminalfilmen kenne. Und seltsam, wenn ich die Augen schließe, könnte ich schwören, dass sie tatsächlich vor mir säße.

      „Machen wir uns also nichts vor! Wir wissen nicht, wie lange wir das hier überleben werden. Nach einigen Informationen, die mir aus verlässlichen Quellen zu sein scheinen, gibt es genügend Hinweise, dass …“

      Er unterbricht abrupt seinen Satz, springt auf und sieht aus dem Fenster.

      „Fahren Sie fort! Wir sind schon mittendrin in der salzigen Suppe! Imaginieren Sie, erinnern Sie, erleben Sie wieder, wiederbeleben Sie!“

      Vom Fenster her tönt seine Stimme eher wie die von Klaus Kinski selig oder auch unselig. Jedenfalls kurz vor einer Emotionsattacke. Er kommt zurück und seine Augen glühen mich an.

      Ich schließe meine automatisch und bin an der Eingangstür von Jörgs Elternhaus, einem Reihenhaus gegenüber der

      Coca-Cola-Filiale in Lichterfelde.

      „Guten Abend! Komm rein. Die anderen sind schon fast alle da. Da rechts ist die Treppe. Brauchst nur da runtergehen und immer der Musik nach.“ Wie oft Jörgs Mutter das heute wohl schon gesagt haben mag?

      Und in der Tat ist es einfach, ich folge den Klängen von No Milk Today. Der Flur im Keller ist nicht beleuchtet, doch buntes Licht kommt aus einem Raum gleich auf der linken Seite. Ich bleibe am Türrahmen stehen und wage einen Blick hinein. Ob sie schon da ist? Ich sehe Christina, die mit ihrem Norbert tanzt. Auch Klaus in weißem Oberhemd ist mit Annemarie trotz des Qualms gut zu erkennen. Jetzt merke ich, dass ein bisschen weiter rechts noch ein Raum eine blasse Beleuchtung auf den Flur schickt. Dort sitzt mein Freund Michael und versucht, im Stil eines erfahrenen Rauchers eine Zigarette zu inhalieren.

      „Hey, Sloggi! Keine Lust, das Tanzbein zu schwingen?“ Micha hat sich diesen Spitznamen, dank seiner Angewohnheit Hosenträger zu tragen, redlich verdient.

      Jetzt kommt Jörg in diesen Raum, der sowohl Küche als auch Bar sein könnte, und ich werde mein Geschenk los.

      „Herzlichen Glückwunsch und bleib‘ sauber!“ Ich reiche ihm Oh Well von Fleetwood Mac. Petra, seit der Klassenfahrt seine feste Freundin, denkt stets ans Praktische:

      „Deinen Mantel kannste da hinten in die Ecke tun.“

      „Danke, danke, sind denn schon alle da?“

      Jetzt hat Michael für einen Moment den Kampf mit dem Glimmstängel aufgegeben und meint sagen zu müssen:

      „Falls du deine Angebetete meinst, die ist noch nicht da!“

      „Lustig, sehr lustig, Sloggi! Ich meine, es dauert möglicherweise einhundert Jahre, nicht wahr, bis du begreifst, dass in den tiefsten Schächten unserer tiefsten Bergwerke Kurt seine Pantoffeln sucht!“

      Seit geraumer Zeit sprechen einige aus unserer Klasse, ich natürlich auch, im sogenannten Doktor-Seltsam-Deutsch, das heißt, dass wir aus dem Film Doktor Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben frei zitieren und zwar sinnlos oder sinnfrei integriert in irgendwelche Sätze, die wir uns um die Ohren hauen. Ein fester Bestandteil eines Wortspiels mit Michael ist die Tatsache, dass ich ihn mit seinem Vater Kurt auf den Arm zu nehmen pflege. Das rührt von einem Erlebnis her, welches ich in seiner elterlichen Wohnung hatte. Kurt war auf der Pirsch nach seinen Pantoffeln und seine angeheiratete Ehefrau Liselotte, kurz Lilo genannt, half ihm indirekt, indem sie aus der Küche in schriller Weise flötete: Ja, wo hat denn der Papi seine Pantoffeln?

      Ein anderes Kümmernis für meinen lieben Freund Michael

      stellt die eigenwillige Anatomie des Kopfes von Kurt dar. Sein relativ massiger Schädel, bar jeden Haares, weist im hinteren Drittel, so ziemlich mittig, einen taubeneigroßen Grützbeutel auf, weswegen ich eigentlich betont mitleidig, doch eher in Babysprache ab und an, wenn die Gelegenheit günstig scheint, erkundigend nachfrage, wie denn das werte Befinden von Kurts Horn sei. Darauf reagiert Michael meistens mimosenhaft und sogar in „beleidigter leberwurstweise“ eingeschnappt. Warum? Nun, seine Eltern kratzen nicht nur beide schon am Rentenalter, was per se ja nichts Verwerfliches zu sein bräuchte, doch die beiden Leutchen weisen zudem Charakteristika auf, die Michael im Ansehen bei seiner Mitschülerschaft auf einer Beliebtheitsskala eher am unteren