Er nahm mir meine Tasche mit den wenigen Teilen ab, die ich mitgenommen hatte und dirigierte mich zum Eingang des Krankenhauses.
>> Sie haben sehr lange operiert und er sieht schlimm aus, also bitte erschrecke dich nicht.<<
>> Ist er denn wach?<<
>> Nein, er liegt im Koma und sie wissen nicht, ob er wieder aufwachen wird. Wir müssen wohl Geduld haben.<<
Wir fuhren mit dem Aufzug in den fünften Stock und bogen um mehrere Ecken, als wir endlich bei der Intensivstation ankamen. Ich legte all meine überflüssigen Sachen ab und zog einen Kittel, Handschuhe und Mundschutz an.
Als ich endlich zu ihm durfte, wurde mir ein wenig flau im Magen. Zwar hatte ich schon viele schlimme Anblicke gesehen, aber das war mein Bruder, der nun vor mir lag. Ich atmete noch einmal tief durch und betrat schließlich das Zimmer.
Überall waren Monitore, die ihn bewachten und piepten, über verschiedene Zugänge wurden ihm Medikamente und Flüssigkeiten zugeführt, während sein Kopf mit einem Verband verdeckt war. Nur das Gesicht konnte ich erkennen, wobei es sehr stark angeschwollen und verfärbt war. Sein linkes Bein war eingegipst und hochgelagert, ebenso wie sein linker Arm. Ich wusste nicht was noch alles unter der Decke verbunden und gebrochen war, was wahrscheinlich besser so war, da es mich so schon genügend schockierte.
>> Hallo, ich bin Dr. Arndt.<<
Ich drehte mich um und sah dem Arzt in die Augen, wo er sicherlich direkt mein Entsetzen feststellen konnte.
>> Ich bin Sarah, seine Schwester.<<
>> Ich hab schon von Ihnen gehört. Sie kommen gerade aus Brisbane?<<
>> Richtig.<<
>> Ziemlich weite Anreise.<<
>> Mhm. Können Sie mir sagen, was er jetzt genau hat?<<
>> Natürlich... Dass er aus sechs Metern auf ein paar Eisenstangen gefallen ist, wissen Sie ja wahrscheinlich schon.<<
Ich nickte, während mir erneut ein Schauer über den Rücken lief, wie immer, wenn ich mir vorstellte, wie das passiert war.
>> Wir haben ihn sehr lange operiert. Sein linkes Bein, sein linker Oberschenkel und sein linker Arm sind gebrochen, ebenso wie drei Rippen auf der linken Seite. Eine Rippe hat sich in seine Lunge gebohrt, sodass der linke Lungenflügel zusammengefallen ist. Diese Verletzungen stammen wohl alle vom ersten Aufprall, als er nach etwa vier Metern auf das Vordach aufgeprallt ist.<<
Erster Aufprall? Ich setzte mich auf einen freien Stuhl, da mir bei der Vorstellung die Beine vor Entsetzen zitterten.
>> Jedenfalls ist er nur auf die Kante des Vordachs gefallen, sodass er danach noch auf dem Boden aufkam, wo die Eisenstangen lagen.<<
>> Und was ist da noch verletzt worden?<<
Meine Stimme war nur noch ein leises Flüstern.
>> Eine Stange hat sich in seinen Bauch gebohrt und dabei die Milz verletzt. Eine weitere in sein rechtes Bein. Er hat ein mittelschweres Schädelhirntrauma mit einem leichten Schädelbruch erlitten, was jedoch wesentlich schlimmer ausgefallen wäre, wenn er nicht zuerst auf das Dach gefallen wäre. Eigentlich hatte er Glück im Unglück und jetzt können wir nur noch hoffen.<<
Ich blickte zu Sascha und ließ meinen Tränen freien Lauf. Er war immer der starke und tapfere gewesen und nun lag er da, mit all diesen Verletzungen, die sich anhörten, als wäre nichts mehr in seinem Körper gesund.
>> Inwiefern hätte es noch schlimmer ausfallen können?<<
>> Er hat keine Hirnblutungen gehabt, sein Hirndruck ist in Ordnung und auch das EEG sieht gut aus. Wir messen mit den Monitoren seine Blutdruck, die Körpertemperatur und die Sauerstoffsättigung des Blutes, damit wir alles im Blick haben und ihn optimal versorgen können.<<
Ich nickte und blickte auf die blinkenden Anzeigen der Geräte.
>> Haben Sie noch Fragen?<<
>> Wie lange darf ich hier bleiben?<<
>> Die Besuchszeit ist bis um sieben Uhr, aber bitte bleiben Sie nicht länger als 10 Minuten bei ihm, er braucht Ruhe.<<
>> Kann ich die Nacht über dann draußen vor der Tür im Gang warten?<<
>> Sie sollten nach Hause gehen und sich ausruhen, wenn etwas ist, rufen wir Sie an.<<
>> Ich werde ihn nicht allein lassen.<<
>> Sie können nichts für ihn tun. Seien Sie vernünftig und ruhen Sie sich aus, damit Sie Kraft haben, wenn er aufwacht.<<
Mit diesen Worten verließ der Arzt den Raum und ließ mich mit Sascha allein. Sebastian war nicht mit hereingekommen, da er lieber draußen wartete. Ich ging auf die andere Seite des Bettes, wo seine rechte Hand lag, die, wie ich mitbekommen hatte, nicht verletzt wurde. Ich nahm sie in meine Hand und streichelte ihn sanft mit meinem Daumen,
>> Hey Großer. Hier ist Sarah. Tut mir Leid, dass ich so lange nicht mehr hier war, aber du hättest wirklich nicht von einem Gebäude stürzen müssen, damit ich herkomme. Ein Anruf und eine Bitte hätte es auch getan.<<
Ich schluchzte und grinste gleichzeitig, was mir vor Augen führte, wie verzweifelt ich eigentlich war.
>> Nein, ernsthaft. Was machst du für Sachen? Du kannst mir doch nicht so einen Schrecken einjagen, mir solch eine Angst machen. Du musst wieder gesund werden, hörst du? Wir brauchen dich! Was soll ich ohne dich machen? Das ist undenkbar. Deine Kinder brauchen dich. Ich möchte, dass du mich in Australien besuchen kommst, damit wir zusammen surfen gehen können, so wie du es vor zwei Jahren geplant hattest. Ich mache alles mit, was du willst, nur bitte werde wieder gesund. Ich brauche dich und würde es nicht überleben, wenn dir etwas passiert.<<
Zitternd wischte ich mir einige Tränen weg und holte noch einmal tief Luft.
>> Ich werde jetzt wieder gehen, weil ich immer nur kurz zu dir kommen darf, aber ich warte draußen im Flur, also wach auf und kämpfe.<<
Ich küsste behutsam seine Hand, bevor ich ihn losließ und aufstand.
Als ich die Schutzkleidung wieder abgelegt hatte und in den Wartebereich im Flur vor der Intensivstation trat, war es wie ein Familientreffen.
Pia die Frau von Sebastian war gekommen, ebenso wie seine beiden Kinder Vincent, der jetzt acht sein musste und Lea, die zwei Jahre jünger war. Daneben standen Simon und seine Frau Theresa mit ihren inzwischen drei Kindern. Ich erkannte die älteste, Hannah sofort. Sie war bildschön und musste etwa fünf Jahre alt sein. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Sophie hatte sich vollkommen verändert und den kleinsten kannte ich nur vom Telefon. Ich wusste, dass sie vor etwa zwei Monaten noch einmal Eltern geworden waren und ich nun noch einen Neffen namens Erik hatte. Es war einfach überwältigend alle auf einmal wiederzusehen, allerdings fand ich Saschas Frau Denise und ihre Kinder nicht.
>> Wow.<<
Mehr als dieses „Wow“ brachte ich einfach nicht heraus. Es war zu viel. Erst der lange Flug, dann die ganze Liste an Verletzungen, die Sascha erlitten hatte, dann Saschas Anblick und nun meine Brüder mit ihren Familien.
Ich umarmte jeden einzelnen und begrüßte auch die Kinder überschwänglich, da ich sie so lange nicht gesehen hatte und sie nichts für den Anlass dieses Treffens konnten. Sie sollten nicht spüren, wie tragisch die Situation eigentlich war. Auch den kleinen Erik hielt ich auf dem Arm und gab ihm ein Fläschchen, während wir uns über Neuigkeiten austauschten. Er war noch so winzig und so lieb und brav, dass mir für kurze Zeit warm ums Herz wurde. Gegen sechs Uhr fuhren Pia und Theresa mit den Kindern schon einmal nach Hause, während Simon und Sebastian noch mit mir im Aufenthaltsraum blieben.
Wir