„Mir wurde zugetragen, dass ich baldmöglichst erscheinen darf“, antwortete er knapp. „Wie kommt es, dass Ihr nicht vorbereitet seid?“
Ich dachte, ich hätte noch Zeit, dachte Claudile bitter. Oh, das geht böse aus!
Francesco versuchte es mit Heiterkeit. „Wie wäre es mit einem schönen Wein und wir besprechen das alles bei einem lodernden Feuer im Kamin?“ Nach den Schweißperlen aufs einer Stirn verstand Francesco sehr gut, was hier gerade passierte. Das war eine Prüfung – vielleicht die Prüfung ihres Lebens, und Claudile hatte sich nicht genügend darauf vorbereitet.
Das war nichts, das man mit roher Gewalt oder mit schönen Worten beheben konnte.
Natürlich wurde es noch schlimmer.
Just in dem Moment wurde es laut. Infernalischer Lärm drang aus der Küche und ließ Claudile hochschrecken. Was denn jetzt?
In der Küche wurden sie fündig. Auf der einen Seite standen die Glückliche Bettina und ihre sechszehn Kinder und ein Mann, der sie im Arm hielt und auf der anderen Seite Fritz, der Haushalter, wie er Töpfe und kleine Fässchen vor sich auf dem Tisch aufgereiht hatte.
Claudile, Francesco und der Magistrat sahen sich fragend an und stellten sich dazu.
„Ich habe nichts dergleichen gestohlen“, sagte gerade Bettina. Die Farbe in ihrem Gesicht wechselte ins Fleckige. Der Mann neben ihr musste ihr Gatte sein, mutmaßte Claudile, denn er nahm sie beschützend in den Arm und versuchte sie zurückzuhalten.
Fritz stützte die Fingerknöchel auf den Tisch vor sich und beugte sich vor. „Ach, jetzt habe ich wohl keine Augen mehr im Kopf, wie? Was für eine Frechheit! Die meisten von euch können froh sein, dass ihnen jemand überhaupt eine Arbeit gibt. Halunken, Diebe, Schnorrer! Mir reicht es endgültig mit euch!“
„Alles ist ruhig und friedlich!“ beeilte sich Claudile zu sagen und wollte den Gast hinausbegleiten, doch mit unverhohlenem Interesse wich er ihrem Arm aus und stellte sich näher zum Haushalter. Sein süffisantes Lächeln wirkte sehr entmutigend. „Probleme mit der Belegschaft, guter Mann?“
„Ich war von Anfang an dagegen, diese“, Fritz holte tief Luft und deutete auf die Familie, als wäre sie Abfall in seinen Augen, „diese Taugenichtse einzustellen! Ich weiß, was sich gehört! Ich hatte darauf bestanden, nur ausgebildetes Personal einzustellen. Aber hat man auf mich gehört? Nein, natürlich nicht…“
„Sehr bedauerlich“, pflichtete Sir Reynold bei.
„Was ist denn passiert?“ fragte Francesco.
„Genau das meine ich! Ein fauler Apfel verdirbt den ganzen Korb!“
„Wohl eher eine Tonne Äpfel“, hörte sich Claudile sagen und fragte sich im nächsten Moment, warum sie das gesagt hatte. „Jetzt wollen wir uns erstmal beruhigen. Was ist passiert?“
Die Glückliche Bettina wirkte überhaupt nicht glücklich. Ihre Kinder drängten sich ängstlich in einem Pulk um sie herum. „Er behauptet, wir würden Essen stehlen. Das haben wir nicht nötig, sage ich.“
„Wo ist der Zucker hin?“ fragte Fritz drohend und zeigte wie es schien aufs Geratewohl auf eines der Kinder. „Du da! Du kaust doch die ganze Zeit! Hast wohl dir heute den Bauch vollgeschlagen, was?“
Der Mann an ihrer Seite – Claudile erinnerte sich, dass er als Müllkutscher arbeitete – erhob sich zu seiner ganzen Größe und krempelte beim Sprechen die Ärmel hoch: „Jetzt hör mal zu, du Floh! Wenn meine Frau sagt, sie hat nichts gestohlen, dann hat sie nichts gestohlen!“
Bettina warf ihrer Herrin einen flehentlichen Blick zu. „Ich schwöre bei meinen Ahnen! Sowas tun wir nicht. Ihr müsst mir glauben!“ Sie war den Tränen nahe.
Claudile wollte ihr glauben – Ach, was! Sie glaubte ihr. Und eigentlich war es ihr egal, denn die Speisekammer war mit frischem Essen zum Bersten voll und Geld gab es genug. Aber der Zeitpunkt… war mehr als schlecht gewählt.
Der Zeitpunkt. Etwas in ihrem Kopf klingelte verschwörerisch, aber der Gedanke hielt sich hartnäckig hinter Panik, denn der lauernde Blick des Magistraten sprach bereits Bände.
„Da reicht man ihnen die Hand – und sie reißen dir jeden Finger ab!“, triumphierte Fritz dabei. „Mir tut es leid, dass Ihr das mit ansehen musstet, Herr.“
Der Magistrat bedachte ihn spöttisch und deutete mit einem Blick zu Claudile zur nächsten Tür. „Ich denke, das wird heut ein kurzer Besuch. Können wir?“
Völlig überrumpelt stand sie da. Was passiert hier gerade?
Zu Schnell. Viel zu schnell.
Und gerade in dem Moment, als Claudile dachte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, bewegte sich die Erde.
3
Es begann mit einer kleineren Rutschung leise und schleichend und hatte den bekannten Domino-Effekt. Vor vierzig Jahren hatte sich eine ähnliche Rutschung ereignet und ließ jeden Bergbewohner in Gedanken daran das Blut in den Adern gefrieren. Das hier war schlimmer.
Oberhalb des Bergmassivs löste sich eine Eisplatte und rutschte nach unten. Ehemals stabile Eisfelder hatten sich wie Adern jahrhundertelang in den Sedimenten gebildet und wurden durch das Schmelzwasser mehr und mehr ausgehöhlt, bis alles zusammenbrach. Der Prozess hatte schon im Frühling begonnen und durch den nahenden Winter – fast ein halbes Jahr später – den Ablauf beschleunigt. Die Kälte der Nordwinde festigte nicht den Grund, sondern beschwerte die obere Fläche mit zunehmenden Neuschnee, was zum Einsturz der Sedimente führte. Während immer neuere Schichten kollabierten setzte eine Kettenreaktion ein, die nicht mehr aufzuhalten war. Die letzten stabilen Strukturen wurden just gegen Mittag von den herunterstürzenden Massen zermalmt und der ganze Südhang geriet in Aufruhr. Zum Südwesten hin fiel die Bergwand in mehreren Terrassen zwar senkrecht in die Tiefe, was die Wucht der Lawine erheblich abmildern würde aber bei den Massen gab es kein Halten mehr: der Berg würde reagieren und würde das Schrecklichste aller Ungeheuer losschicken.
Eine Lawine war das schlimmste von allen Ungeheuern. Es versetzte auch den abgeklärtesten Verstand in Panik, denn sie brachte Tod und Zerstörung und ließ sich nicht aufhalten. Wer dem Schauspiel zusehen konnte und sich dazu entschloss, sich in der sicheren Stadt zu bringen, brachte über sich selbst das Todesurteil. Der entstehende Sog des Bruchs zermalmte Steine wie auch Bäume und die Wellen rasten ringförmig nach allen Seiten los. Die gesamte Geröllmasse geriet in Schwingung und konnte bis an die vierhundert Stundenkilometer erreichen. Die erste Welle transportierte eine Million Tonnen Schnee und eine entsprechende Menge Energie. Kurz vor der Stadt Blagrhiken wurde der Boden flacher, was die Masse abbremste aber nicht verlangsamte. Die Schneemassen türmten sich auf, da der Boden flacher wurde und die Welle erreichte eine Höhe von zwanzig Metern. Gewöhnliche Lawinen von zwei Metern Höhe waren keine Aufregung wert und hätten nur dafür gesorgt, dass das die Bewohner sich eiligst in ihre Häuser verzogen und auf den nächsten Tag warten mussten. Als die ersten Alarmglocken schrillten, wussten nur die wenigen Eingeweihten, dass mit der Lawine der Tod kam.
Die Burg war solide aus festem Stein erbaut worden, doch es war nicht nur weicher Schnee, der mit der Gewalt von Riesen auf die Mauern eindrosch: Bäume und Steine trommelten ein Stakkato, das die Menschen dahinter fast taub wurden. Baumstämme rasten durch die Fenster, zerstörten das Mobiliar als wären sie aus Pappe und begruben alles unter sich mit Schnee. Wer nicht erschlagen oder aufgespießt wurde, wurde von dem Sog mitgerissen und lief Gefahr gegen die Wände geschleudert oder zermalmt zu werden. Wer sich unter Tonnen von Schnee und mit heiler Haut widerfand, lief Gefahr zu ersticken oder zu erfrieren.
Claudile sah die tosende Wut durchs Fenster kommen, stieß den Magistraten beiseite und hechtete zur Familie hin, um sie zu schützen – im gleichen Moment wusste sie, dass sie nichts ausrichten konnte. Nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt bohrte sich der Stamm einer Kiefer in den Boden, während um sie herum alles