»Oder weil bei Ihnen das Bedürfnis zu gewinnen schon zu groß war. Es ist dieselbe Geschichte wie mit dem Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift. Sie werden zugeben: wenn er nicht nahe am Ertrinken wäre, würde er den Strohhalm nicht für einen Baumast halten.«
Polina war erstaunt.
»Aber sie selbst setzen doch auch Ihre Hoffnung darauf?« fragte sie. »Vor vierzehn Tagen haben Sie mir doch selbst lang und breit auseinandergesetzt, Sie seien vollständig davon überzeugt, hier am Roulett zu gewinnen, und haben mich inständig gebeten, ich möchte Sie nicht für einen Irrsinnigen ansehen. Oder haben Sie damals nur gescherzt? Aber ich erinnere mich, Sie sprachen so ernsthaft, daß es ganz unmöglich war, es für Scherz zu halten.«
»Das ist wahr«, antwortete ich nachdenklich. »Ich bin bis auf diesen Augenblick völlig davon überzeugt, daß ich gewinnen werde. Ich will Ihnen sogar gestehen, Sie haben mich soeben veranlaßt, mir die Frage vorzulegen: wie geht es zu, daß mein heutiger sinnloser, häßlicher Verlust in mir keinen Zweifel hat rege werden lassen? Denn trotz alledem bin ich vollständig überzeugt, daß, sowie ich anfange für mich selbst zu spielen, ich unfehlbar gewinnen werde.«
»Warum sind Sie denn davon so fest überzeugt?«
»Die Wahrheit zu sagen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich gewinnen muß, daß dies auch für mich die einzige Rettung ist. Vielleicht ist das für mich der Grund zu glauben, daß mir ein guter Erfolg sicher ist.«
»Also ist auch bei Ihnen die Notlage sehr arg, wenn Sie eine so fanatische Überzeugung hegen?«
»Ich möchte wetten, Sie zweifeln daran, daß ich für eine ernstliche Notlage ein Empfindungsvermögen habe?«
»Das ist mir ganz gleich«, antwortete Polina ruhig und in gleichgültigem Ton. »Wenn Sie es hören wollen: ja, ich zweifle, daß sie jemals eine ernsthafte Not gequält hat. Auch Sie mögen dies und das haben, was Sie quält, aber nicht ernsthaft. Sie sind ein unordentlicher, haltloser Mensch. Wozu haben Sie Geld nötig? Unter all den Gründen, die Sie mir damals anführten, habe ich keinen einzigen ernsthaften gefunden.«
»Apropos«, unterbrach ich sie, »Sie sagten, Sie müßten eine Schuld zurückzahlen. Nun gut, also eine Schuld. Wem sind Sie denn schuldig? Dem Franzosen?«
»Was sind das für Fragen? Sie sind heute besonders dreist. Sie sind doch wohl nicht betrunken?«
»Sie wissen, daß ich mir erlaube, alles zu sagen, was mir in den Sinn kommt, und mitunter sehr offenherzig frage. Ich wiederhole es Ihnen, ich bin Ihr Sklave, und vor einem Sklaven schämt man sich nicht, und ein Sklave kann einen nicht beleidigen.«
»Das ist lauter dummes Zeug! Ihr Gerede vom Sklaven ist mir zuwider.«
»Beachten Sie, daß ich von meiner Sklaverei nicht deshalb spreche, weil ich den Wunsch hätte, Ihr Sklave zu sein; sondern ich spreche ganz einfach von einer Tatsache, die gar nicht von meinem Willen abhängt.«
»Sagen Sie doch geradezu: wozu brauchen Sie Geld?«
»Wozu möchten Sie das wissen?« fragte ich zurück.
»Wie Sie wollen«, antwortete sie mit einer stolzen Kopfbewegung.
»Das Gerede vom Sklaven ist Ihnen zuwider; aber die Sklaverei verlangen Sie: ›Antworten, ohne zu räsonieren!‹ Nun gut, meinetwegen! Wozu ich Geld brauche, fragen Sie? Wozu? Nun, für Geld ist doch alles zu haben.«
»Das weiß ich recht wohl; aber wenn jemand es sich nur so ganz im allgemeinen wünscht, so wird er nicht in solchen Wahnsinn hineingeraten! Sie sind ja ebenfalls schon bis zur Raserei gekommen, bis zum Fatalismus. Da steckt etwas dahinter, irgendein besonderer Zweck. Sprechen Sie ohne Ausflüchte; ich verlange das von Ihnen!«
Sie schien zornig zu werden, und ich war sehr zufrieden damit, daß sie mich in so erregter Art ausfragte.
»Natürlich habe ich dabei einen Zweck«, sagte ich, »aber ich weiß nicht näher zu erklären, worin er besteht. Ich kann weiter nichts sagen, als daß ich mit Geld auch in Ihren Augen ein anderer Mensch werde und kein Sklave mehr bleibe.«
»Wie können Sie das erreichen?«
»Wie ich das erreichen kann? Sie können sich nicht einmal vorstellen, daß ich das erreichen kann, von Ihnen für etwas anderes als für einen Sklaven angesehen zu werden? Sehen Sie, eben das kann ich nicht leiden, diese Verwunderung und Verständnislosigkeit!«
»Sie sagten, diese Sklaverei sei für Sie ein Genuß. Und das habe ich auch selbst geglaubt.«
»Sie haben das geglaubt!« rief ich mit einem eigenartigen Wonnegefühl. »Ach, wie hübsch ist diese Naivität von Ihrer Seite! Ja, ja, Ihr Sklave zu sein, das ist mir ein Genuß. Es liegt wirklich ein Genuß darin, auf der untersten Stufe der Erniedrigung und Herabwürdigung zu stehen!« fuhr ich in meiner aufgeregten Rederei fort. »Wer weiß, vielleicht gewährt auch die Knute einen Genuß, wenn sie auf den Rücken niedersaust und das Fleisch in Fetzen reißt . . . Aber möglicherweise beabsichtige ich auch andere Genüsse kennenzulernen. Eben erst hat mir der General für die siebenhundert Rubel jährlich, die ich vielleicht gar nicht von ihm bekommen werde, in Ihrer Gegenwart bei Tisch Vorhaltungen gemacht. Der Marquis de Grieux starrt mich mit emporgezogenen Augenbrauen an und bemerkt mich gleichzeitig nicht einmal. Vielleicht hege ich meinerseits den leidenschaftlichen Wunsch, den Marquis de Grieux in Ihrer Gegenwart bei der Nase zu nehmen!«
»Das sind Reden eines unreifen jungen Menschen. In jeder Lebenslage kann man sich eine würdige Stellung schaffen. Wenn das einen Kampf kostet, so erniedrigt ein solcher Kampf den Menschen nicht, sondern er dient sogar dazu, ihn zu erhöhen.«
»Ganz wie die Vorschriften im Schreibheft! Sie nehmen an. ich verstände vielleicht nur nicht, mir eine würdige Stellung zu schaffen, das heißt, es möge ja immerhin sein, daß ich ein Mensch sei, der eine gewisse Würde besitze; aber mir eine würdige Stellung zu schaffen, das verstände ich nicht. Sie sehen ein, daß es so sein kann? Aber alle Russen sind von dieser Art, und wissen Sie, warum? Weil die Russen zu reich und vielseitig begabt sind, um für ihr Benehmen schnell die anständige Form zu finden. Hier kommt alles auf die Form an. Wir Russen sind größtenteils so reich begabt, daß wir, um die anständige Form zu treffen, Genialität nötig hätten. Aber an Genialität fehlt es bei uns freilich sehr oft, weil die überhaupt nur selten vorkommt. Nur bei den Franzosen und vielleicht auch bei einigen anderen europäischen Völkern hat sich die Form so bestimmt herausgebildet, daß man höchst würdig aussehen und dabei der unwürdigste Mensch sein kann. Deshalb wird bei ihnen auf die Form auch so viel Wert gelegt. Der Franzose erträgt eine Beleidigung, eine wirkliche, ernste Beleidigung, ohne die Stirn kraus zu ziehen; aber einen Nasenstüber läßt er sich um keinen Preis gefallen, weil das eine Verletzung der konventionellen, für alle Zeit festgesetzten Form des Anstands ist. Daher sind auch unsere Damen in die Franzosen so vernarrt, weil diese so gute Formen haben. Oder richtiger: zu haben scheinen; denn meiner Ansicht nach besitzt der Franzose eigentlich gar keine Form, sondern ist lediglich ein Hahn, le coq gaulois. Indessen verstehe ich davon nichts; ich bin kein Frauenzimmer. Vielleicht sind die Hähne wirklich schön. Aber ich bin da in ein törichtes Schwatzen hineingeraten, und Sie unterbrechen mich auch nicht. Unterbrechen Sie mich nur öfter, wenn ich mit Ihnen rede; denn ich neige dazu, alles herauszusagen, alles, alles. Es kommt mir dabei all und jede Form abhanden. Ich gebe sogar zu, daß ich nicht nur keine Form besitze, sondern auch keinerlei wertvolle Eigenschaften. Das spreche ich Ihnen gegenüber offen aus. Es ist mir an derartigen Eigenschaften auch gar nichts gelegen. Jetzt ist in meinem Innern alles ins Stocken geraten. Sie wissen selbst, woher. Ich habe keinen einzigen verständigen Gedanken im Kopf. Ich weiß schon seit langer Zeit nicht mehr, was in der Welt passiert, in Rußland oder hier. Ich bin durch Dresden hindurchgefahren und kann mich nicht erinnern, wie diese Stadt aussieht. Sie wissen selbst, was mich so vollständig absorbiert hat. Da ich gar keine Hoffnung habe und in Ihren Augen eine Null bin, so rede ich offen: ich sehe überall