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Zweites Kapitel – Die Entlassung – 1
Zweites Kapitel – Die Entlassung – 1
Ob Kufalt, am Morgen um fünf erwacht, sich den Reizen eines nackten Mädchenkörpers verweigert hätte, bleibt zweifelhaft. Denn er wacht erst um dreiviertel sechs auf, als die Glocke mit zwei scharfen Schlägen Signal zum Aufstehen und Waschen gibt. Er fährt hoch, in die Hosen, besonders gut wird das Bett gemacht, denn heute ist die große Zellenabschiedsrevision. Dann das Waschen im Emailleessnapf statt in der blinkenden Nickelwaschschüssel, die nun zu putzen keine Zeit mehr ist.
Als die Kalfaktoren um sechs nach den Kübeln und Wasser laufen, die Zellenriegel zurückdonnern und die Schlösser knacken, ist Kufalt schon längst beim Reinigen des Zementfußbodens. Noch einmal muss das Muster drauf gewichst werden, alles ist von der Nacht verdorben. Dann baut er das Inventar nach einem heiligen System auf, damit der Hauptwachtmeister auf einen Blick überschaue: siehe! alles ist da.
Und bei all dieser Tätigkeit denkt er doch nur ununterbrochen an den Traum, den er gehabt hat in der Nacht. Der Traum aus den ersten Wochen seiner Untersuchungshaft ist wiedergekommen, jetzt in dieser Nacht.
Er läuft auf einen dunklen, tief verschneiten Wald zu. Er muss sehr rasch laufen, die Polente ist auf seiner Spur. Es ist Nacht, es ist bitterer Winter, der Wald vor ihm ist sehr groß, auf einer Karte hat er gesehen, achtzehn Kilometer läuft die Chaussee durch Wald. Aber er muss hinüber nach der anderen Seite, dort geht eine andere Bahnlinie, dort vermuten sie ihn nicht, dort kann er vielleicht noch entkommen.
Ehe er in die ungeheure Waldung eintaucht, die ihn für vier Nachtstunden umschließen wird, muss er durch ein Dorf. Und im Gasthof des Dorfes sind die Fenster noch hell. Er geht hinein und lässt sich einen Schnaps geben. Und noch einen. Und noch einen. Es scheint, er kann nicht mehr warm werden. Er kauft sich eine Flasche Kognak. Er verstaut sie in seine Aktentasche und zahlt.
Dabei merkt er, dass ihn zwei Männer aufmerksam betrachten, ein blasser, fuchsgesichtiger, junger, und ein alter, gedunsener mit nur noch ein paar Haaren auf der schorfigen Platte. Zwei Pennbrüder.
„Viel Schnee auf den Wegen“, krächzt der Alte.
„Ja“, antwortet Kufalt und sieht, wo das Wechselgeld auf seinen Hunderter bleibt. Er hat die Geldtasche dabei in der Hand, und der Blick des jungen Fuchses liegt auf ihr, haltlos gierig.
„Gibt noch mehr Schnee, Nachbar“, brummt der Alte. „Keine Nacht zum Spazierengehen.“
„Nein“, sagt er kurz und steckt die Brieftasche ein. Er sagt „guten Abend“ gegen den Wirt und geht hinaus. Als er an dem Tisch der beiden vorbeikommt, steht der Junge auf und sagt bittend: „Geben Sie einen Schnaps aus für zwei Durchgefrorene. Wir wollen auch noch auf Quanz.“
Er geht rasch vorbei, als hätte er nichts gehört.
Draußen empfängt ihn der Wind mit einem scharfen prasselnden Trieb Schnee direkt ins Gesicht. Er muss sich Schritt um Schritt gegen ihn ankämpfen, der Wald steht dunkel über dem Feld, ein paar hundert Meter ab.
‚Ich hätte ihnen einen Grog geben lassen sollen’, macht er sich Vorwürfe. ‚Dann wären sie noch eine Viertelstunde sitzen geblieben und ich hätte Vorsprung gehabt. Die sind scharf auf mein Geld. Warum hat er gesagt, wir gehen auch auf Quanz? Woher weiß er, wohin ich will?’
Er versucht, den Weg zurückzusehen, den er kam. Aber es ist nichts zu erkennen, der Schnee treibt jagend schräg vorbei.
‚Im Wald wird es stiller sein. Aber der Schnee wird hoch liegen. Noch achtzehn Kilometer! Ich bin wahnsinnig, wie gut saß ich in Berlin! Sobald ich im Wald bin, nehme ich die Tausender aus der Brieftasche und verstecke sie an mir. Dann finden sie nur das Wechselgeld von dem Hunderter und das sollen sie gerne haben!’
Er läuft gegen den Wind und Schnee stürmend an. Der Alkohol flammt in ihm hoch, er dampft von Wärme. Der Schnee kühlt das Gesicht gut.
Dann plötzlich ist es ganz still um ihn, er ist in die ‚Geduld’ gekommen, in den Windschatten des Waldes. Nur noch ein paar Schritte. Da steht ein Tannenbusch gleich am Wege, er will hinter ihm Deckung nehmen, bricht in die metertiefe Schneeverwehung des Chausseegrabens ein und kämpft, immer wieder abrutschend und einsinkend, um festen Boden.
Als er den hat, nimmt er sich nicht erst die Zeit, den Schnee abzuklopfen von den Kleidern. Er setzt einen Fuß auf den Chausseestein und knüpft hastig die Schnürsenkel auf. Seine Schuhe sind gut mit langen wasserdichten Schäften, der Fuß darin ist trocken und warm. Vorsichtig schiebt er das flach gekniffte Paket mit den Tausendern – es sind leider nur noch drei – zwischen Strumpf und Haut, fühlt, ob alles gut und glatt sitzt und zieht den Schuh wieder an.
Dann richtet er sich auf. Er nimmt einen tüchtigen Schluck aus der Flasche. Er ist ganz ruhig jetzt und seiner Sache sicher. Die kriegen ihn nie, weder die noch die. Er ist der Schlauste. Er muss nur forsch ausschreiten, die holen ihn nie ein.
Und so beginnt seine Wanderung. Sie ist schwieriger, aber auch leichter, als er dachte. Von den beiden sieht und hört er nichts wieder, doch der Schnee liegt schrecklich hoch, bei den Schneisen in breiten Wehen, in denen er bis zu den Armen versinkt. Und von der Chaussee gleitet er so oft ab, dass er schließlich darin Routine hat: sobald er den Boden unter den Füßen verliert und in den Graben rutscht, wirft er sich mit aller Gewalt in die frühere Gehrichtung, dann landet er meist noch auf fester Erde.
Von Zeit zu Zeit macht er einen Chausseestein frei und leuchtet die Zahl an. Er kommt langsam vorwärts. Mehr als drei Kilometer schafft er nicht in der Stunde. Gut ist, dass er den Kognak hat, aber trotz alledem: den Frühzug bekommt er nicht mehr in Quanz, und vor allem: er muss dort erst in ein Hotel und schlafen und schlafen!
Als er die geleerte Flasche in den Schnee wirft, hat er noch vier Kilometer vor sich. Vor acht kann er nicht in Quanz sein. Die letzten Kilometer fällt er nur vorwärts, von einem Fuß auf den anderen, trotzdem zum Schluss die Chaussee fast schneefrei ist, außerhalb des Waldes reingeweht vom Winde.
Dann sitzt er im ‚Deutschen Adler’ in Quanz auf der Bettkante, das Zimmer ist eisig, der eben angezündete Ofen qualmt. Er schläft immer wieder, zur Seite fallend, ein, aber er muss sich ausziehen, er kann nicht schlafen in dem nassen Zeug. Seine Glieder sind starr, seine Knochen voll Eis.
Er streift den Strumpf ab...
Er starrt, er sitzt da, verständnislos. Dann helfen die Finger den Augen suchen. Sie finden – einen weichen zerriebenen Papierbrei, fast farblos, Papier, das acht Stunden zwischen feuchtem Fuß und Strumpf zerarbeitet wurde.
Dreitausend – sein letztes Geld, der letzte Rest vom Unterschlagenen! Er wirft sich aufs Bett und bleibt liegen, wie er hinfällt, ohne Denken. Etwas später bestellt er sich Kognak aufs Zimmer, auch heißen Rotwein und Nelken und Zucker.
Drei Tage bleibt er in seinem Bett, immer trinkend, dann ist das kleine Geld aus der Brieftasche alle. Er geht los und stellt sich der Polizei, genauer dem Oberlandjäger von Quanz, einem Städtel mit dreitausend Einwohnern. Es ist zu Ende.
Dies hat er erlebt, es ist etwas über fünf Jahre her. Und dies hat Kufalt geträumt, viele, viele Nächte lang, die ganzen ersten Monate nach seiner Verhaftung: den Nachtmarsch durch den Wald und den Augenblick, da er aus dem Strumpf die zermatschten Tausender holte.
Es hat ihm einen Stoß versetzt, es ist das Schlimmste, was er je erlebt hat. Es hat seinen Stolz für immer geknickt, die Einbildung, er wäre wer. Nicht einmal zum Ganoven taugt er. Nie wird er jemandem dies Erlebnis erzählen, stets hat er erklärt, er habe alles Geld verludert, auch diese drei.
Später ist der Traum seltener gekommen, aber immer einmal kam er wieder. Auch heute nacht. Auch diese Nacht. Da das neue Leben beginnt, klirrt das alte Kettenglied.
Aber seltsam, der Traum hat sich gewandelt, ein wenig nur, eine