Während meines dritten Aufenthaltes in Palermo ging ich aus Langeweile viel shoppen und gab viel zu viel Geld aus. Ich nannte es Frustshoppen. Das meiste Geld gab ich bei Max Mara aus. Oft verweilte ich auf den schönen Marmorbänken in der Allee der Via Liberta, denn ich hatte ja tagsüber und abends viel Zeit. Entweder aß ich Obst, blätterte in den Vokabeln, trank mein Wasser und beobachtete die Leute. Oft hielt ein Auto, der Fahrer kurbelte das Fenster runter und rief mir zu: „Lust auf einen Kaffee?“ Manche Männer waren sehr aufdringlich und blieben noch minutenlang in meiner Nähe stehen und versuchten, mich zu überzeugen mitzukommen. Freundlich lächelte ich sie an, dankte für das Angebot und blieb unnahbar. Dieses Angesprochen werden gefiel mir nicht wirklich. Dass eine Frau in meinem Alter noch so angemacht wurde, wunderte mich. Sah ich wie eine Nutte aus? Nein. Ich sah nur anders aus als die hiesigen überwiegend kleingewachsenen dunkelhaarigen Frauen. Vielleicht nahmen die Männer an, dass ich eine gelangweilte Touristin bin und Lust auf Sex hatte. Oft kam ich mit Leuten, die sich zu mir auf die Marmorbank setzten ins Gespräch. Einmal setzte sich eine Mutter mit ihrem Sohn zu mir. Sie waren zu Besuch in Palermo und ruhten sich nach ihrer Shoppingtour aus. Mit dem Sohn, der an der Uni Deutsch studierte, traf ich mich während seiner Semesterferien später öfter zum Italienischunterricht. Sehr im Gedächtnis blieben mir seine deutliche Aussprache und sein feminines Aussehen. Morgens wartete ich immer ungeduldig auf Massimo. Wir liebten uns, danach brachte er mich auf Umwegen mal mit dem Motorrad oder der Vespa an den Strand oder ich spazierte durch die Stadt.
Massimo hatte einen sehr großen Freundeskreis. Trotzdem zeigte er sich ganz öffentlich mit mir zu Fuß, auf dem Motorrad, auf der Vespa, im Bus, im Auto, im Restaurant, auf der Straße, wo er manchmal jemanden grüßte. Meine Befürchtung, dass irgendein Bekannter uns mal sieht, ließ mich nicht los. Er war so verändert. Seine Partnerin war ihm total egal geworden. Das sagte er mir öfter, denn er war in mich bis über beide Ohren verliebt. „Du wirst immer schöner“, sagte ich während wir im Straßenlokal frühstückten und fügte hinzu, „pass auf, dass dir deine Frau nicht auf die Schliche kommt!“ Es war Dienstag im August. Wir übernachteten auf der Azienda. Mein Schatz war früh aufgestanden, um zu arbeiten. Müde und von Mücken zerstochen ging ich in die Küche, um mir einen Espresso zu machen und sah das Brot auf dem Tisch liegen. Wie lieb von ihm, dachte ich. Dann bemerkte ich, dass er die Tür wieder verschlossen hatte. Als wir die ersten Male auf seine Azienda fuhren, war er lockerer. Massimo stellte mich immer als eine Kundin vor, die kein Italienisch sprach, sondern nur Englisch. Einmal fragte er mich, ob ich Lust hätte, ihn abends aufs Feld zu begleiten. Ein Weizenfeld wurde gemäht. Seine Anwesenheit war unentbehrlich, er musste die Arbeiter betreuen und kontrollieren. Das schien hier in Sizilien Brauch zu sein, dass man die Arbeiter während der Ausführung ihres Jobs nicht aus den Augen ließ. Am frühen Abend fuhren wir mit seinem Jeep zum Feld. Der Mähdrescher war schon im Einsatz. Neben dem Mähdrescher nahm ein Traktor mit Überladewagen das Korn auf. Wenn der Überladewagen voll war, wurde dieser auf einen riesigen Schwertonner, der auf dem Feldweg hinter unserem Jeep parkte, entladen. Bis dieser wiederum voll war, vergingen Stunden. Zweimal fuhr dieser Schwertonner an diesem Abend zum Entladen zur Waage, die sich am östlichen Dorfrand, circa zehn Minuten Fahrt, befand. Mit dem Jeep fuhren wir dicht hinter dem Laster. Als Besitzer musste er alles überwachen. Gegen zwanzig Uhr kam die Ehefrau des Mähdrescherfahrers mit den beiden Kindern, einem kleinen Jungen und einem Mädchen und brachte ihrem Mann das Essen und Kaffee. Das neunjährige Mädchen sah mich mit seinen riesengroßen hellblauen Augen ganz neugierig an. Die Mutter reichte auch mir einen Kaffee. „Grazie.“ Ich sah hübsch aus in meinen engen hellblauen Jeans, dem blonden Bubikopf, der schwarzen Windjacke. Ab und zu spazierte ich über die Felder, um mir die Beine zu vertreten. „Willst Du mal mit auf den Mähdrescher?“, fragte mich mein Geliebter. „Ja, gern“, erwiderte ich und schritt auf ihn zu. Ich kletterte mit seiner Hilfe in das hochgelegene Fahrerhaus und verbrachte fast eine Stunde neben dem Fahrer. Der hatte ein markantes sonnenverbranntes faltiges Gesicht mit einer sehr langen Nase. „Darf ich Sie fotografieren?“ Er lächelte zustimmend. Ich fotografierte ihn. Ich versuchte mit ihm, der tiefsten sizilianischen Dialekt sprach, auf Italienisch zu reden. Etwas verstanden wir beide. Ich dachte: Scheiß auf Verhaltensregeln. Die Scheinwerfer fielen auf das Schneidwerk und ich starrte gebannt auf das Messer, das sich schnell im Takt immer hoch und runter bewegte. Faszinierend diese Erntemaschinen des 21. Jahrhunderts. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, wie mühselig das Mähen und Dreschen, heute nur noch ein Arbeitsgang, waren. Früher vor noch fünfzig Jahren wurde das Korn bei mir zu Hause auf kleinen Parzellen gemäht. Die Gaben wurden von Hand aufgenommen, mit Stroh gebunden, in dem man zwei Büschel Strohlängen zusammengeknotet hatte. Zum Schluss wurden die Gaben wie Puppen zum Trocknen zu Hauf aufgestellt. Wenn man dann einen Termin zum Dreschen bekam, wurden sie auf den Pferdewagen geladen und zum Dreschkasten gefahren. Vom Pferdewagen reichte eine Person mit der langen Gabel die Gaben der Person auf dem Dreschkasten zu. Das gedroschene Korn wurde in Jutesäcken aufgefangen. Diese vielen Arbeitsgänge wurden heute von einer Maschine erledigt. Was für ein gewaltiger Fortschritt. Hätte ich geahnt, dass wir so viele Stunden auf dem Feld verbringen würden, hätte ich mir etwas zu essen eingesteckt. Nicht nur, dass ich sehr hungrig war, mir war auch kalt geworden. Ab und zu setzten wir uns beide in den Jeep, um uns zu wärmen. Nachdem die Mäharbeit beendet war, gingen wir gegen vierundzwanzig Uhr in sein Lokal und aßen Pizza. Der Wirt beobachtete uns. Das Lokal war zu dieser späten Stunde von Männern, Familien und Paaren mit Kleinkindern noch gut besucht. Nun wusste das ganze Dorf über meine Anwesenheit Bescheid. Eines Vormittags saß ich auf der Bank vor dem Haus und frühstückte. Da kam ein älterer Herr die Auffahrt hoch und fragte, ob Massimo, der mal wieder das Tor nicht geschlossen hatte, da sei. Der alte Mann, der einen Korb mit Tomaten trug, kam auf mich zu und stellte sich vor. „Massimo ist auf dem Feld. Setzen Sie sich doch.“ Er setzte sich nicht, blieb vor mir stehen und erzählte mir sein ganzes Leben. Seine Frau war vor drei Jahren verstorben. Jetzt lebte er hier allein. Ich sprach mit ihm Italienisch. Er tat mir leid. Ich stellte mir vor, ich müsste hier allein leben. Aber sicher war dieser freundliche Mann mit sich zufrieden.
Als Massimo zum Mittagessen nach Hause kam, berichtete ich ihm ausführlich über diesen Besuch. Er schwieg dazu. Gestern kam von ihm plötzlich ein Anruf: „Mach dich fertig! Pack deine Tasche! Wir treffen uns an unserer Ecke und fahren auf die Azienda.“ Es ging wieder alles so holterdiepolter. Ich verstand nur Fetzen, griff schnell nach ein paar Sachen und rannte los. Ich war mir unsicher, ob ich den Treffpunkt auch richtig verstanden hatte und rief zurück: „Ich stehe hier vor dem Geschäft.“ Ich hatte Glück und ihn richtig verstanden. „Ja, ich bin gleich da“, sagte er. Unsicher ob er mit dem Motorrad oder dem Auto käme, stand ich an der Bordsteinkante und hielt im dichten Verkehr Ausschau nach ihm, denn ich wollte ihn nicht verpassen. Dann sah ich ihn mit dem Auto kommen und winkte ihm zu. Schnell stieg ich ein. Als wir endlich die quirlige Stadt hinter uns gelassen hatten, streichelten wir uns. Während er meine Hand streichelte, streichelte ich mit der