»Ganz richtig.«
»General a.D. Iwolgin, ein unglücklicher Mensch. Darf ich um Ihren Vornamen und Vatersnamen bitten?«
»Ljow Nikolajewitsch.«
»Es stimmt, es stimmt! Der Sohn meines Freundes und, ich kann wohl sagen, meines Spielkameraden Nikolai Petrowitsch!«
»Mein Vater hieß Nikolai Lwowitsch.«
»Lwowitsch«, verbesserte sich der General, aber nicht etwa eilig, sondern mit vollständigem Selbstbewußtsein, als ob er den richtigen Namen keineswegs vergessen, sondern sich nur zufällig versprochen hätte. Er setzte sich, ergriff auch den Fürsten bei der Hand und nötigte ihn, sich neben ihn zu setzen. »Ich habe Sie auf meinen Armen getragen.«
»In der Tat?« fragte der Fürst. »Mein Vater ist schon seit zwanzig Jahren tot.«
»Ja, seit zwanzig Jahren, seit zwanzig Jahren und drei Monaten. Wir haben zusammen die Schule besucht; ich ging dann gleich von der Schule zum Militär.«
»Mein Vater war ebenfalls beim Militär; er war Leutnant im Wasilkowschen Regiment.«
»Im Bjelomirschen. Seine Versetzung in das Bjelomirsche Regiment erfolgte ganz kurz vor seinem Tod. Ich stand ebenfalls dort und erwies ihm die letzte Ehre. Ihre Mutter ...«
Der General hielt inne, wie von einer traurigen Erinnerung überwältigt.
»Auch sie«, sagte der Fürst, »starb ein halbes Jahr darauf infolge einer Erkältung.«
»Nicht infolge einer Erkältung. Nicht infolge einer Erkältung, glauben Sie einem alten Mann! Ich war am Ort und bin bei ihrer Beerdigung zugegen gewesen. Vor Gram um ihren Fürsten ist sie gestorben, nicht infolge einer Erkältung. Ja, auch die Fürstin ist mir unvergeßlich! Oh Jugend, Jugend! Um ihretwillen wären der Fürst und ich, obgleich wir seit unserer Kindheit die besten Freunde gewesen waren, beinahe aneinander zu Mördern geworden.«
Der Fürst begann mit einigem Mißtrauen zuzuhören.
»Ich war in Ihre Mutter leidenschaftlich verliebt, als sie schon Braut war, die Braut meines Freundes. Der Fürst bemerkte das und war darüber höchst betroffen. Eines Morgens (es war noch nicht sieben Uhr) kommt er zu mir und weckt mich. Erstaunt ziehe ich mich an; Schweigen von beiden Seiten; ich begreife alles. Er zieht zwei Pistolen aus der Tasche. Übers Taschentuch. Ohne Zeugen. Wozu brauchten wir Zeugen, wenn wir einander in fünf Minuten in die Ewigkeit befördern wollten? Wir luden, zogen das Taschentuch auseinander, stellten uns ordnungsgemäß hin, setzten uns gegenseitig die Pistolen aufs Herz und sahen einander ins Gesicht. Plötzlich stürzen uns beiden die Tränen stromweise aus den Augen, und die Hände fangen uns an zu zittern. Beiden, beiden gleichzeitig! Na, da folgten nun natürlich Umarmungen und beiderseitiger Wettstreit im Edelmut. Der Fürst rief: ›Sie sei dein!‹ Ich rief: ›Sie sei dein!‹ Mit einem Wort ... mit einem Wort ... Sie wollen bei uns wohnen ... bei uns wohnen?«
»Ja, vielleicht, für einige Zeit«, antwortete der Fürst, etwas stockend.
»Fürst, Mama läßt Sie zu sich bitten«, rief Kolja, der durch die Tür hereinblickte.
Der Fürst wollte aufstehen, um hinzugehen; aber der General legte ihm die rechte Hand auf die Schulter und drückte ihn freundschaftlich wieder auf das Sofa nieder.
»Als aufrichtiger Freund Ihres Vaters möchte ich Sie im voraus auf einiges aufmerksam machen«, sagte der General. »Ich für meine Person habe, wie Sie selbst sehen, unter einer tragischen Katastrophe gelitten; aber ohne Gericht und Urteil, ohne Gericht und Urteil! Nina Alexandrowna ist eine vortreffliche Frau, und meine Tochter Warwara Ardalionowna eine vortreffliche Tochter! Durch die Verhältnisse gezwungen, vermieten wir Zimmer – ein unerhörter Niedergang der Familie! So muß es mir gehen, der ich hätte Generalgouverneur werden müssen ...! Aber das Zusammensein mit Ihnen wird uns immer eine Freude sein. Inzwischen spielt sich hier in meinem Haus eine schlimme Tragödie ab!«
Der Fürst blickte ihn fragend und mit großer Neugier an.
»Es ist eine Heirat im Werke, eine Heirat, wie sie selten vorkommt. Die Heirat eines zweideutigen Frauenzimmers und eines jungen Mannes, welcher Kammerjunker sein könnte. Dieses Weib soll in das Haus geführt werden, in dem meine Tochter und meine Frau leben! Aber solange ich atme, wird sie es nicht betreten! Ich werde mich auf die Schwelle legen; mag sie über mich hinwegschreiten ...! Mit Ganja rede ich jetzt fast gar nicht; ich vermeide es sogar, mit ihm zusammenzutreffen. Ich teile Ihnen das absichtlich vorher mit; wenn Sie bei uns wohnen, werden Sie ja doch ohnedies Zeuge dieser Vorgänge werden. Aber Sie sind der Sohn meines Freundes, und ich bin zu der Hoffnung berechtigt ...«
»Tun Sie mir doch den Gefallen, Fürst, und kommen Sie zu mir in den Salon!« rief Nina Alexandrowna, die nun selbst an der Tür erschien.
»Denke dir nur, liebe Frau«, rief der General, »es stellt sich heraus, daß ich den Fürsten auf meinen Armen gewiegt habe!«
Nina Alexandrowna warf dem General einen vorwurfsvollen, dem Fürsten einen prüfenden Blick zu, sagte jedoch kein Wort. Der Fürst folgte ihr; aber kaum waren sie in den Salon gekommen und hatten sich gesetzt, und kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, dem Fürsten eilig etwas halblaut mitzuteilen, als plötzlich der General ebenfalls im Salon erschien. Nina Alexandrowna verstummte sofort und beugte sich mit offensichtlichem Ärger über ihre Strickarbeit. Der General mochte vielleicht bemerken, daß sie sich ärgerte, ließ sich aber dadurch nicht aus seiner vorzüglichen Stimmung bringen.
»Der Sohn meines Freundes!« rief er, sich an Nina Alexandrowna wendend. »Und so unerwartet! Ich hatte schon lange nicht mehr darauf zu hoffen gewagt. Aber, liebe Frau, erinnerst du dich denn wirklich nicht mehr an den seligen Nikolai Lwowitsch? Du hast ihn noch kennengelernt ... in Twer?«
»Ich erinnere mich nicht an Nikolai Lwowitsch. War das Ihr Vater?« fragte sie den Fürsten.
»Jawohl; aber er ist, soviel ich weiß, nicht in Twer gestorben, sondern in Jelisawetgrad«, bemerkte, zum General gewendet, der Fürst schüchtern. »Ich habe es von Pawlischtschew gehört ...«
»Es war in Twer«, erklärte der General in bestimmtem Ton. »Seine Versetzung nach Twer hatte erst kurz vor seinem Tod stattgefunden, noch bevor sich seine Krankheit entwickelte. Sie selbst, Fürst, waren damals noch zu klein und können sich daher weder an die Versetzung noch an die Reise erinnern; Pawlischtschew aber kann sich geirrt haben, wiewohl er ein ganz vorzüglicher Mensch war.«
»Sie haben auch Pawlischtschew gekannt?«
»Er war ein seltener Mensch. Aber ich war bei dem Tod Ihres Vaters persönlich anwesend und segnete ihn auf dem Totenbett ...«
»Mein Vater starb ja als Angeklagter in Haft«, bemerkte der Fürst wieder, »wiewohl ich nie habe in Erfahrung bringen können, welches Vergehens er eigentlich beschuldigt wurde; er ist im Lazarett gestorben.«
»Oh, das war wegen der Geschichte mit dem Gemeinen Kolpakow. Der Fürst wäre zweifellos freigesprochen worden.«
»So? Wissen Sie das bestimmt?« fragte der Fürst lebhaft interessiert.
»Und ob!« rief der General. »Das Kriegsgericht ging dann auseinander, ohne einen Beschluß gefaßt zu haben. Eine ganz unglaubliche Geschichte! Ja, man kann sogar sagen: eine geheimnisvolle Geschichte. Der Hauptmann und Kompaniechef Larionow lag im Sterben, und dem Fürsten wurden provisorisch dessen dienstliche Obliegenheiten übertragen; gut. Der Gemeine Kolpakow begeht einen Diebstahl; er entwendet einem Kameraden ein Paar Stiefel und vertrinkt sie; gut. Der Fürst (notabene, es war in Gegenwart des Feldwebels und des Korporals) macht Kolpakow gehörig herunter und droht, ihn auspeitschen zu lassen. Sehr gut. Kolpakow geht in die Kaserne, legt sich auf seine Pritsche und stirbt eine Viertelstunde darauf. Vortrefflich; aber doch ein unerwarteter, fast unglaublicher Vorgang. Wie dem nun auch sein mochte, Kolpakow wurde begraben; der Fürst erstattete Bericht, und dann wurde