Die jungen Mädchen standen in der Sommerfrische gewöhnlich gegen neun Uhr auf; nur Aglaja hatte es sich in den letzten zwei, drei Tagen angewöhnt, etwas früher aufzustehen und im Garten spazierenzugehen, aber nicht um sieben Uhr, sondern um acht oder noch später. Lisaweta Prokofjewna, die in der Nacht wirklich vor allerlei Sorgen nicht geschlafen hatte, war gegen acht Uhr aufgestanden in der Absicht, Aglaja im Garten aufzusuchen, da sie annahm, daß diese bereits auf sei, hatte sie aber weder im Garten noch in ihrem Schlafzimmer gefunden. Da war sie unruhig geworden und hatte ihre Töchter geweckt. Von dem Dienstmädchen hatten sie dann erfahren, Aglaja Iwanowna sei schon vor sieben Uhr in den Park gegangen. Die jungen Mädchen hatten über die neue Laune ihres romantisch veranlagten Schwesterchens gelächelt und der Mama bemerkt, Aglaja werde es am Ende noch übelnehmen, wenn diese in den Park ginge, um sie zu suchen; sie sitze jetzt gewiß mit einem Buch auf der grünen Bank, von der sie noch vor drei Tagen gesprochen und um derentwillen sie sich beinah mit dem Fürsten Schtsch. gezankt habe, weil dieser an der Lage der Bank nichts Besonderes habe finden können. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und Aglaja bei dem Rendezvous getroffen und die sonderbaren Worte der letzteren gehört hatte, war sie aus diesen Ursachen sehr erschrocken gewesen; aber als sie nun den Fürsten mit nach Hause genommen hatte, tat es ihr in einer Anwandlung von Feigheit leid, daß sie die Sache angefangen hatte; was war denn dabei, wenn Aglaja den Fürsten im Park traf und sich mit ihm unterhielt, selbst wenn es ein vorher verabredetes Rendezvous war?
»Glaube nicht, lieber Freund«, begann sie endlich, Mut fassend, »daß ich dich hierher geschleppt habe, um dich einem Verhör zu unterwerfen ... Nach dem gestrigen Abend hatte ich vielleicht überhaupt für lange Zeit nicht den Wunsch, mit dir zusammenzukommen, mein Bester ...«
Sie stockte ein wenig.
»Aber doch möchten Sie gern wissen, wie es zugegangen ist, daß ich jetzt mit Aglaja Iwanowna zusammen war?« sprach der Fürst ihren Gedanken sehr ruhig zu Ende.
»Nun ja, gewiß möchte ich das gern!« versetzte Lisaweta Prokofjewna auffahrend. »Ich fürchte mich nicht, offen zu reden; denn ich kränke niemand und beabsichtige niemand zu kränken ...«
»Aber ich bitte Sie, von Kränkung kann ja nicht die Rede sein; es ist ja sehr natürlich, daß Sie als Mutter das zu erfahren wünschen. Ich habe mich heute morgen mit Aglaja Iwanowna bei der grünen Bank Punkt sieben Uhr getroffen, und zwar infolge einer gestrigen Aufforderung von ihrer Seite. Sie ließ mich gestern abend durch ein Billett wissen, daß sie mit mir zusammenkommen und mit mir über eine wichtige Angelegenheit sprechen müsse. Wir haben uns demzufolge getroffen und eine ganze Stunde lang über Dinge gesprochen, die ausschließlich Aglaja Iwanowna angehen. Das ist alles.«
»Natürlich wird das alles sein, lieber Freund, ohne allen Zweifel«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna mit würdevoller Miene.
»Sehr gut, Fürst!« sagte Aglaja, die plötzlich ins Zimmer trat. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür, daß Sie auch mich für unfähig gehalten haben, mich durch eine Lüge zu erniedrigen. Haben Sie nun genug gehört, Mama, oder beabsichtigen Sie, das Verhör noch weiter fortzusetzen?«
»Du weißt, daß ich bisher noch nie vor dir habe zu erröten brauchen, obwohl du dich vielleicht darüber freuen würdest«, antwortete Lisaweta Prokofjewna tadelnd. »Lebe wohl, Fürst; verzeih, daß ich dir Umstände gemacht habe! Ich hoffe, du bist nach wie vor von meiner unveränderlichen Hochachtung gegen dich überzeugt.«
Der Fürst verbeugte sich sofort nach beiden Seiten und entfernte sich schweigend. Alexandra und Adelaida lächelten und flüsterten miteinander. Lisaweta Prokofjewna warf ihnen einen strengen Blick zu.
»Wir amüsieren uns nur darüber, Mama«, sagte Adelaida lachend, »daß der Fürst so wundervolle Verbeugungen machte; manchmal ist er plump wie ein Sack und nun auf einmal so gewandt wie ... wie Jewgeni Pawlowitsch.«
»Zartgefühl und Würde lehrt uns das Herz und nicht der Tanzmeister«, versetzte Lisaweta Prokofjewna in Form einer allgemeinen Sentenz, beendete damit das Gespräch und ging in ihr Zimmer hinauf, ohne Aglaja auch nur anzusehen.
Als der Fürst in seine Wohnung zurückkehrte (es war schon gegen neun Uhr), fand er in der Veranda Wjera Lukjanowna und das Dienstmädchen vor. Beide räumten zusammen auf und fegten nach der gestrigen Unordnung aus.
»Gott sei Dank! Wir sind noch gerade vor Ihrer Rückkehr fertig geworden!« sagte Wjera erfreut.
»Guten Morgen; mir ist ein wenig schwindlig; ich habe schlecht geschlafen; ich möchte es jetzt noch ein bißchen nachholen.«
»Hier in der Veranda, wie gestern? Schön! Ich werde allen sagen, daß sie Sie nicht wecken sollen. Papa ist weggegangen.«
Das Dienstmädchen ging hinaus; Wjera war schon im Begriff ihr zu folgen, wendete sich aber noch einmal um und trat mit besorgter Miene an den Fürsten heran.
»Fürst, haben Sie Mitleid mit diesem ... mit diesem Unglücklichen; jagen Sie ihn nicht heute weg!«
»Um keinen Preis werde ich ihn wegjagen; er kann so lange bleiben, wie er selbst will.«
»Er wird jetzt nichts anrichten, und ... verfahren Sie nicht zu streng mit ihm!«
»O nein! Warum sollte ich das tun?«
»Und ... lachen Sie ihn nicht aus; das ist das Allerwichtigste.«
»O, durchaus nicht!«
»Ich bin dumm, daß ich einem Mann wie Sie das erst noch sage«, sagte Wjera errötend. »Aber obwohl Sie müde sind«, fügte sie lachend hinzu, indem sie sich bald umwandte, um fortzugehen, »haben Sie doch in diesem Augenblick so prächtige Augen ... so glückliche Augen.«
»Wirklich glückliche?« fragte der Fürst lebhaft und lachte fröhlich auf.
Aber Wjera, die sonst natürlich und ungeniert wie ein Knabe war, wurde auf einmal verlegen, errötete noch stärker und ging, immer weiterlachend, schnell hinaus.
»Was für ein prächtiges Mädchen ...«, dachte der Fürst, vergaß sie aber im nächsten Augenblick wieder. Er ging in eine Ecke der Veranda, wo eine Chaiselongue mit einem Tischchen davor stand, setzte sich hin, bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß so etwa zehn Minuten lang; dann fuhr er auf einmal eilig und unruhig mit der Hand in die Seitentasche und zog die drei Briefe heraus. Aber die Tür öffnete sich von neuem, und Kolja kam herein. Der Fürst freute sich ordentlich, daß er die Briefe wieder in die Tasche stecken und die Lektüre verschieben mußte.
»Na, das war heute nacht eine tolle Geschichte!« sagte Kolja, indem er sich auf die Chaiselongue setzte und wie alle Menschen seines Schlages ohne weiteres zur Sache kam. »Was haben Sie jetzt für ein Urteil über Ippolit? Versagen Sie ihm Ihre Achtung?«
»Warum sollte ich das tun ...? Aber, Kolja, ich bin müde ... Außerdem ist es gar zu traurig, davon wieder anzufangen ... Was macht er aber jetzt?«
»Er schläft und wird noch zwei Stunden fortschlafen. Ich verstehe: Sie haben zu Hause nicht geschlafen, sondern sind im Park umhergewandert ... natürlich, die Aufregung ... wie wäre es auch anders möglich?«
»Woher wissen Sie, daß ich im Park umhergewandert bin und zu Hause nicht geschlafen habe?«
»Wjera hat es mir soeben gesagt. Sie sagte, ich sollte jetzt nicht zu Ihnen hereingehen; aber ich konnte es doch nicht unterlassen; ich bin nur auf ein Augenblickchen gekommen. Ich habe die letzten zwei Stunden am Bett Wache gehalten; jetzt hat mich Kostja Lebedjew abgelöst. Burdowski ist weggegangen. Also legen Sie sich nur hin, Fürst! Gute Nacht ... na, oder guten Tag! Aber wissen Sie, ich bin doch sehr ergriffen!«
»Gewiß ... dieser ganze Vorgang ...«
»Nein, Fürst, nein; was mich so ergriffen hat, war die ›Beichte‹. Namentlich die Stelle, wo er von der Vorsehung und von dem zukünftigen Leben sprach. Das war ein gi-gan-tischer Gedanke!«
Der