Diese Haltlosigkeit, dies nie bei sich selber Halt machen, diese Selbstvergeudung einer großen und nur falsch verwerteten Kraft ist es, was ihre Mutter so sehr an Marie Antoinette erbittert: sie weiß genau, die alte Menschenkennerin, dieses von Natur begabte und auch beseelte Mädchen könnte hundertmal mehr aus sich herausholen. Marie Antoinette brauchte nur sein zu wollen, was sie im Grunde ist, und sie hätte königliche Macht; aber, Verhängnis, sie lebt aus Bequemlichkeit ständig unter ihrem eigenen geistigen Niveau. Als echte Österreicherin hat sie unzweifelhaft viel und zu vielem Talent, leider nur nicht den mindesten Willen, diese eingeborenen Gaben ernsthaft auszunützen oder gar zu vertiefen: leichtfertig zerstreut sie ihre Talente, um sich selbst zu zerstreuen. »Ihre erste Regung«, urteilt Joseph II., »ist immer die richtige, und wenn sie dabei beharrte, ein wenig mehr nachdenken würde, wäre sie vortrefflich.« Aber gerade dieses auch nur ein wenig Nachdenken wird ihrem wirbeligen Temperament schon zur Last; jedes andere Denken als das aus dem Stegreif springende bedeutet für sie Anstrengung, und ihre kapriziös nonchalante Natur haßt jede Art geistiger Anstrengung. Nur Spiel will sie, nur Leichtigkeit in allem und jedem, nur kein Bemühen, keine wirkliche Arbeit. Marie Antoinette plaudert ausschließlich mit dem Mund und nicht mit dem Kopf. Wenn man zu ihr spricht, hört sie sprunghaft-zerstreut zu; in der Konversation, bestechend durch bezaubernde Liebenswürdigkeit und glitzernde Leichtigkeit, läßt sie jeden Gedanken, kaum angesponnen, sofort wieder fallen, nichts spricht sie, nichts denkt sie, nichts liest sie zu Ende, nirgends hakt sie sich fest, um daraus einen Sinn und Seim wirklicher Erfahrung zu saugen. Darum mag sie auch keine Bücher, keine Staatsakte, nichts Ernstes, das Geduld und Aufmerksamkeit fordert, und nur ungern, mit ungeduldig kritzelnder Schrift entledigt sie sich der allernotwendigsten Briefe; selbst denen an die Mutter merkt man das Fertighabenwollen oft deutlich an. Nur nicht sich das Leben beschweren, nur nichts, was den Kopf düster oder dumpf oder melancholisch macht! Wer diese ihre Denkfaulheit am besten überspielt, gilt ihr als der klügste Mann, wer Anstrengung fordert, als lästiger Pedant, und mit einem Sprung ist sie weg von allen vernünftigen Ratgebern bei ihren Kavalieren und Gesinnungsschwestern. Nur genießen, nur sich nicht stören lassen durch Nachdenken und Rechnen und Sparen, so denkt sie, und so denken sie alle in ihrem Kreise. Nur den Sinnen leben und sich nicht besinnen: Moral eines ganzen Geschlechts, des Dix-huitième, dem das Schicksal sie symbolisch als Königin gesetzt, daß sie sichtbar mit ihm lebe und sichtbar mit ihm sterbe.
Einen krasseren charakterologischen Gegensatz als dieses höchst ungleiche Paar könnte kein Dichter erfinden; bis in den letzten Nerv ihrer Körper, bis in den Rhythmus des Bluts, bis in die äußerste Ausschwingung ihrer Temperamente stellen Marie Antoinette und Ludwig XVI. in allen ihren Eigenschaften und Eigenheiten eine geradezu schulmäßige Antithese dar. Er schwer, sie leicht, er plump, sie biegsam, er stockig, sie moussierend, er nervenstumpf, sie flackerig-nervös. Und weiter ins Seelische: er unentschlossen, sie zu rasch entschlossen, er langsam überlegend, sie spontan in Ja und Nein, er strenggläubig bigott, sie selig weltverliebt, er bescheiden demütig, sie kokett selbstbewußt, er pedantisch, sie fahrig, er sparsam, sie verschwenderisch, er überernst, sie unmäßig verspielt, er Tiefgänger mit schwerem Flutgang, sie Schaum und Wellentanz. Er fühlt sich allein am wohlsten, sie in lauter lärmender Gesellschaft, er liebt mit animalisch dumpfem Behagen viel zu essen und schweren Wein zu trinken, sie rührt Wein nie an, ißt wenig und flink. Sein Element ist der Schlaf, das ihre der Tanz, seine Welt der Tag, die ihre die Nacht; so geht der Stundenzeiger ihrer Lebensuhren ständig wie Sonne und Mond gegeneinander. Um elf Uhr, wenn sich Ludwig XVI. schlafen legt, beginnt Marie Antoinette erst richtig aufzuflackern, heute in den Spielsaal, morgen auf einen Ball, immer anderswohin; wenn er morgens schon stundenlang auf der Jagd herumreitet, fängt sie erst an, sich zu erheben. Nirgends, in keinem Punkt, treffen ihre Gewohnheiten, ihre Neigungen, ihre Zeiteinteilung zusammen; eigentlich machen Marie Antoinette und Ludwig XVI. einen Großteil ihres Lebens vie à part, wie sie (zum Leidwesen Maria Theresias) fast immer lit à part machen.
Eine schlechte, eine zanksüchtige, gereizte, eine mühsam zusammengehaltene Ehe also? Durchaus nicht! Im Gegenteil, eine durchaus gemütliche, zufriedene Ehe und wäre das anfängliche Versagen der Männlichkeit mit den bekannten peinlichen Auswirkungen nicht, sogar eine völlig glückliche. Denn damit Spannungen entstehen, bedarf es beiderseits einer gewissen Kraft, Wille muß sich gegen Willen stemmen, hart gegen hart. Diese beiden aber, Marie Antoinette und Ludwig XVI. weichen jeder Reibung und Spannung aus, er aus körperlicher, sie aus seelischer Lässigkeit. »Mein Geschmack ist nicht derselbe wie der des Königs,« plaudert Marie Antoinette locker in einem Briefe aus, »er interessiert sich für nichts als die Jagd und mechanische Arbeit ... Sie werden mir zugeben, daß meine Stellung in einer Schmiede nicht eben von besonderer Grazie wäre: ich wäre dort nicht Vulkan, und die Rolle der Venus würde meinem Gatten vielleicht noch mehr mißfallen als meine andern Neigungen.« Ludwig XVI. wieder findet die ganze wirbelige, geräuschvolle Art ihrer Vergnügungen gar nicht nach seinem Sinn, aber der schlaffe Mann hat weder Willen noch Kraft, energisch einzuschreiten; gutmütig lächelt er zu ihren Maßlosigkeiten und ist im Grunde Stolz, eine so vielbewunderte, scharmante Frau zu haben. Soweit sein mattes Gefühl sich einer Schwingung überhaupt fähig erweist, ist dieser biedere Mann auf seine Art – also schwerfällig und redlich – seiner schönen und ihm an Verstand überlegenen Frau völlig willenshörig zugetan, er drückt sich, seiner Minderwertigkeit bewußt, zur Seite, um ihr nicht im Licht zu stehen. Sie wiederum lächelt ein wenig über den bequemen Ehegatten, aber ohne Bosheit, denn auch sie hat ihn in einer gewissen nachsichtigen Weise gern, etwa wie einen großen zottigen Bernhardiner, den man ab und zu krault und streichelt, weil er niemals knurrt und murrt und gehorsam zärtlich dem kleinsten Wink gehorcht: auf die Dauer kann sie dem guten Dickfell nicht böse sein, schon aus Dankbarkeit nicht. Denn er läßt sie schalten und walten nach ihrer Laune, zieht sich zartfühlend zurück, wo er sich nicht erwünscht fühlt, betritt nie unangemeldet ihr Zimmer, ein idealer Gatte, der trotz seiner Sparsamkeit ihre Schulden immer wieder zahlt und ihr alles gestattet, am Ende sogar ihren Liebhaber. Je länger Marie Antoinette mit Ludwig XVI. zusammenlebt, um so mehr gewinnt sie Achtung vor seinem hinter aller Schwäche hochehrenwerten Charakter. Aus der diplomatisch gekuppelten Ehe wird allmählich eine wirkliche Kameradschaft, ein gutes herzliches Beisammensein, ein herzlicheres jedenfalls als in den meisten fürstlichen Ehen jener Zeit.
Nur Liebe, dies große und heilige Wort, läßt man besser bei diesem Anlaß aus dem Spiel. Zu rechter Liebe fehlt diesem unmännlichen Ludwig die Energie des Herzens; Marie Antoinettes Neigung für ihn enthält