Braco - kleiner Bruder, großer Engel. Anina Toskani. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anina Toskani
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599494
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entschlossen, sie den Fängen der dunklen Mächten zu entreißen, von denen wir nicht wussten, woher sie kamen. Ich wollte unbedingt herausfinden, was hinter dem Phänomen auf der grünen alten Velourcouch steckte und Deli’s frühere Frohnatur zurückholen. Ich war mir sicher, Braco würde mir dabei helfen.

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      Braco’s Sonnensymbol im Onyxraum

      Braco’s Blick & Deli’s Alzheimer Attacken.

      

       In der Zwischenzeit, begann Deli’s Stimmung immer heftiger zu schwanken. Sie war immer seltener gutgelaunt, dafür umso öfter melancholisch, schweigsam, in sich gekehrt, regelrecht weltabgewandt. Sie sprach immer häufiger vom Sterben…

      Dann fiel mir auf, dass sie manchmal Trinken und Essen, manchmal sogar die Herdplatte auf kleiner Flamme vergaß, bis es in der Küche angebrannt roch. Meist verließ sie kaum noch die grüne Couch, auf der sie in Droschkenkutscherhaltung mit geneigtem Kopf saß, stundenlang grübelnd. Sie beklagte sich über ihr Leiden, auch körperliches Unwohlsein, wiederholte immer öfter den Wunsch, sie wolle einfach weg, nur weg, einfach tot sein, mausetot! Dann wieder sagte sie, sie sei mir eine Bürde und schwere Last; deswegen sei es Zeit, dass sie gehe und den Weg freimache. Solche Aussagen brachen mir das Herz, denn ich liebte sie sehr und wir waren seit der Schulzeit ein regelrechtes Komplott. Meine inneren Alarmglocken begannen heftig zu läuten. Ich sagte ihr, dass wir die Lebenszeit von Gott oder der Seele zugeteilt bekommen haben und den Plan nicht einfach ändern können. „Wir wissen nicht, wie alt wir werden und warum wir länger als gewünscht auf diesem Planeten unterwegs sind!“ Sie nickte stumm. Nun war ich gezwungen, so auf sie aufzupassen, dass sie keine Dummheiten machte. Schon seit einigen Monaten ging ich jeden Morgen vor der Arbeit mit meinem großen Korb aus geflochtener Weide, dem Rotkäppchenkorb zu ihr, um mit ihr gemeinsam, in der kleinen gemütlichen Wohnküche mit Blick auf den grünen Innenhof, zu frühstücken. Der Korb barg frische Früchte, vom Gretl Markt gegenüber, eine Kanne Tee und manchmal ein paar süße Leckereien.

      Wir teilen beide die Leidenschaft für leckere Torten und Obstkuchen, was bei uns daheim im Dialekt heißt: „Wir sind verschnuppt!“ So saßen wir morgens oft vor der leise flackernden Kerze bei Tee und Kaffee einander gegenüber. Ich plauderte drauflos, um sie abzulenken, erzählte allerhand All-täglichkeiten, aber oft auch gern von den Erlebnissen mit Braco und den Videos, die ich angeschaut hatte. Deli wurde immer neugieriger, sie mochte die Geschichten, denn ringsherum passierte nicht viel, den lieben langen Tag. Wenn ich begeistert von etwas berichtete, staunte sie wie ein Kindergartenkind auf dem Weihnachtsmarkt und machte große Augen. Begeisterung steckt an! Wenn ich von den Heilungen und meinen persönlichen Eindrücken erzählte, wie gut mir sein stiller Blick tat, staunte sie darüber, dass er gar keine Worte benutzt. Das machte sie sehr neugierig. Es gefiel ihr, da sie selbst auch seit Jahren kein überflüssiges Wort mehr sprach. Schließlich gelang es mir, sie zu überzeugen, doch gemeinsam mit mir in meiner Wohnung, einmal Braco an meinem Bildschirm zu erleben. Wir gingen gemeinsam um die Ecke, von ihrer zu meiner Wohnung, saßen dann einträchtig nebeneinander vor einigen von Braco’s Videos. Deli war äußerst skeptisch wie immer. Ich wunderte mich darüber, dass sie den Skeptizismus seit Vati’s Tod 1995 übernommen und zu ihrer zweiten Natur gemacht hatte. Er war sehr rational und analytisch gewesen, ganz im Gegensatz zu ihrem emotionalen und herzlichen Wesen, doch nun empfand ich oft, als würde mir in Deli eine Kombination meiner beiden Eltern gegenübersitzen. Sie brachte oft Argumente, die mich in Erstaunen versetzten. Trotzdem war sie bereit, Braco’s Blick einmal auszuprobieren und dachte, sie habe dabei nichts Besonderes empfunden oder bemerkt. Zu meinem Erstaunen sah ich jeodch, als ich sie heimlich von der Seite beobachtete, gleich bei einem der ersten Male, eine Träne in ihrem Augenwinkel. Das war seit Jahren nicht mehr vorgekommen. Sie pflegte oft zu sagen, sie könne nicht mehr weinen, nicht einmal dann, wenn sie tieftraurig sei und das sei sie eigentlich fast immer. Zu solchen Aussagen konnte ich immer nur stumm und betroffen nicken und meinen Kummer herunterschlucken. Ihre innere Versteinerung tat mir tief im Herzen furchtbar weh. Ich hätte sie so gern wieder glücklich gesehen. Der zweite Weltkrieg hatte Deli’s s und Vati’s beste Jugendjahre überschattet, die Heirat verzögert und Berufsvisionen verschleppt. Deli’s Jungmädchentraum vom glücklichen Landleben, in einem schönen Haus mit Garten und Schneideratelier, bezahlte sie mit dem Verlust ihrer Kunden aus der Stadt. Vater hatte unser Einfamilienhaus auf dem Dorf eigens auf Deli’s Wunsch hin gekauft, sogar gegen seine persönliche Überzeugung, nur um ihren Traum umzusetzen, doch die ohne Architekt ausgeführten Pfuschereien wurden viel zu teuer bezahlt. Ihn kostete die Entscheidung zugunsten der Familie damals Kraft, Nerven und begrenzte ihn bei der Arbeitssuche auf ein engeres Umfeld. Deli ließ, ungeahnt, bei der Entscheidung, in ein winziges Dorf von 400 Seelen zu ziehen, am meisten Federn. Sie verlor in den ersten Jahren in ihrem Traumhaus, das sich als teurer Alptraum entpuppte, sage und schreibe 40 Kilo und dazu ihre Gemütsruhe, ihren Humor und schließlich sämtliche Schneidereikunden. Die Entfernung von der Stadt war auf Dauer zu groß.

      Das alles hätte man vorher bedenken müssen! Ich selbst verlor damals alle Freundinnen vom Gymnasium in der Stadt, weil auch sie woanders hinzogen oder, in der Stadt wohnten, während ich 40 Minuten mit dem Bus zu fahren hatte. Damals be-gann auch, schleichend, die merkwürdige Persönlichkeitsveränderung Delis mit Schlaflosigkeit, Gewichtsverlust und schließlich Angstattacken, die nach der Schilddrüsenoperation mit diesem ‚dämo-nischen Ohrwurm‘ einsetzen, der sie, bis fast zu ihrem Tod, verfolgte, indem er ihr ununterbrochen einflüsterte, sie müsse sterben. Vater konnte sich auf ihre Wesensveränderungen keinen Reim machen. Leider konnte Deli nicht in Worte fassen, was sie bedrückte, fühlte sich oft hundsmiserabel, war melancholisch, de-pressiv und schlecht gelaunt, manchmal auch unerwartet aggressiv. Vater wusste keinen Ausweg als den Rückzug in seinen Hobbykeller, wo er viele Abende und Wochenenden in seine Leidenschaft für Flugzeugbau investierte, während Deli im Haus, allein im Wohnzimmer, Hand-arbeiten machte oder sich mit Lesen ablenkte.

      Erst viel später, kurz vor seinem Tod im Sommer 1995, gestand mir Vater unter vier Augen, dass er seit etlichen Jahren seine geliebte Deli, die er, gleich nach seiner Rückkehr aus dem Krieg, aus Liebe geheiratet hatte, seit langem nicht mehr wiedererkannte. Sie war ihm fremd geworden. Ich war so fassungslos, dass ich keinen Ton herausbrachte. Mein Vater starb 1995 an Prostatakrebs, im gleichen Jahr wie Ivica Prokic, der Lehrer Bracos in Südafrika. Dass Vati Krebs hatte, verschwieg er Deli und mir bis zuletzt, denn er wollte sich keinesfalls operieren lassen. Wir erfuhren von seinem Leiden erst nach seinem Tod durch den Hausarzt, völlig schockiert. Als ich Deli, wenige Jahre später, nach München holte, verdrängte ich zuerst erfolgreich unheilvolle Symptome einer drohenden Katastrophe. Ich ertränkte sie im täglichen Bürostress und meinem Gesang. Unbezahlte, nicht einmal erfassbare Überstunden waren in den 90er Jahren an der Tagesordnung bei deutschen Großunternehmen, so kam ich oft abends spät nach Hause und wusste nicht, was Deli an ihren Abenden machte. In der Freizeit beschäftigte ich mich mit Operngesang, meiner Leidenschaft und sang in der Kirche. Ich versuchte, Deli regelmäßig in unser Schwimmbad in Ottobrunn oder zu Waldspaziergängen mitzunehmen, denn Abwechslung und Bewegung taten ihr gut. Damals ahnte ich nicht, was noch alles im Laufe der Jahre auf mich zukommen würde.

      GottseiDank! Sonst wäre ich vermutlich schreiend davongerannt. Eigentlich kämpfte ich gegen eine Realität, die schon zu lange Wurzeln geschlagen hatte, um noch grundlegend verändert zu werden. Trotz allem war ich überglücklich, als es mir im Frühjahr 2013 gelang, Deli von einem Besuch bei Braco persönlich, in der Kongresshalle in Stuttgart zu überzeugen, damit wir Braco’s heilenden Blick einmal live miterleben konnten. Deli sagte sogar zu und ich dachte, ich könne mich darauf verlassen, war pünktlich frühmorgens an der Tür. Unseren Rotkäppchen-korb hatte ich mit Tee und belegten Broten liebevoll für unterwegs vorbereitet. Ich wollte um 5 Uhr früh aufbrechen, um morgens ab 8 Uhr an Bracos Blick in der Kongresshalle Esslingen teilnehmen zu können. Doch, es kam, wie es kommen musste, Deli war um keinen Preis von ihrer Couch wegzubewegen, wie so oft, wenn sie wieder von einer heftigen Attacke ihrer bedrohlichen inneren Stimmen angefallen worden war. Ich spürte, dass die Atmosphäre um sie herum elektrisch geladen war. Es schien geradezu in der Luft zu knistern,