„Der Akt ist also nicht gefunden“, sagte der Vorsteher, „schade, aber die Geschichte kennen Sie ja schon, eigentlich brauchen wir den Akt nicht mehr, übrigens wird er gewiss noch gefunden werden, er ist wahrscheinlich beim Lehrer, bei dem noch sehr viele Akten sind. Aber komm nun mit der Kerze her, Mizzi, und lies mit mir diesen Brief.“
Mizzi kam und sah nun noch grauer und unscheinbarer aus, als sie auf dem Bettrand saß und sich an den starken lebenerfüllten Mann drückte, der sie umfasst hielt. Nur ihr kleines Gesicht fiel jetzt im Kerzenlicht auf, mit klaren strengen, nur durch den Verfall des Alters gemilderten Linien. Kaum hatte sie in den Brief geblickt, faltete sie leicht die Hände, „von Klamm“ sagte sie. Sie lasen dann gemeinsam den Brief, flüsterten ein wenig miteinander und schließlich während die Gehilfen gerade Hurra riefen, denn sie hatten endlich die Schranktüre zugedrückt und Mizzi sah still dankbar zu ihnen hin, sagte der Vorsteher:
„Mizzi ist völlig meiner Meinung und nun kann ich es wohl auszusprechen wagen. Dieser Brief ist überhaupt keine amtliche Zuschrift, sondern ein Privatbrief. Das ist schon an der Überschrift: „Sehr geehrter Herr!“ deutlich erkennbar. Außerdem ist darin mit keinem Wort gesagt, dass Sie als Landvermesser aufgenommen sind, es ist vielmehr nur im Allgemeinen von herrschaftlichen Diensten die Rede und auch das ist nicht bindend ausgesprochen, sondern Sie sind nur aufgenommen, wie Sie wissen, d. h. die Beweislast dafür, dass Sie aufgenommen sind, ist Ihnen auferlegt. Endlich werden Sie in amtlicher Hinsicht ausschließlich an mich, den Vorsteher als Ihren nächsten Vorgesetzten, verwiesen, der Ihnen alles Nähere mitteilen soll, was ja zum größten Teil schon geschehen ist. Für einen, der amtliche Zuschriften zu lesen versteht und infolgedessen nichtamtliche Briefe noch besser liest, ist das alles überdeutlich. Dass Sie, ein Fremder, das nicht erkennen, wundert mich nicht. Im Ganzen bedeutet der Brief nichts anderes, als dass Klamm persönlich sich um Sie zu kümmern beabsichtigt, für den Fall, dass Sie in herrschaftliche Dienste aufgenommen werden.“
„Sie deuten, Herr Vorsteher“, sagte K., „den Brief so gut, dass schließlich nichts anderes übrig bleibt als die Unterschrift auf einem leeren Blatt Papier. Merken Sie nicht, wie Sie damit Klamms Namen, den Sie zu achten vorgeben, herabwürdigen.“
„Das ist ein Missverständnis“, sagte der Vorsteher. „Ich verkenne die Bedeutung des Briefes nicht, ich setze ihn durch meine Auslegung nicht herab, im Gegenteil. Ein Privatbrief Klamms hat natürlich viel mehr Bedeutung als eine amtliche Zuschrift, nur gerade die Bedeutung, die Sie ihm beilegen, hat er nicht.“
„Kennen Sie Schwarzer?“ fragte K.
„Nein“, sagte der Vorsteher, „du vielleicht, Mizzi? Auch nicht. Nein, wir kennen ihn nicht.“
„Das ist merkwürdig“, sagte K., „er ist der Sohn eines Unterkastellans.“
„Lieber Herr Landvermesser“, sagte der Vorsteher, „wie soll ich denn alle Söhne aller Unterkastellane kennen?“ „Gut“, sagte K., „dann müssen Sie mir also glauben, dass er es ist. Mit diesem Schwarzer hatte ich noch am Tage meiner Ankunft einen ärgerlichen Auftritt. Er erkundigte sich dann telefonisch bei einem Unterkastellan namens Fritz und bekam die Auskunft, dass ich als Landvermesser aufgenommen sei. Wie erklären Sie sich das, Herr Vorsteher?“
„Sehr einfach“, sagte der Vorsteher, „Sie sind eben noch niemals wirklich mit unseren Behörden in Berührung gekommen. Alle diese Berührungen sind nur scheinbar, Sie aber halten sie infolge Ihrer Unkenntnis der Verhältnisse für wirklich. Und was das Telefon betrifft: Sehen Sie, bei mir, der ich doch wahrlich genug mit den Behörden zu tun habe, gibt es kein Telefon. In Wirtsstuben u. dgl. da mag es gute Dienste leisten, so etwa wie ein Musikautomat, mehr ist es auch nicht. Haben Sie schon einmal hier telefoniert, ja? Nun also, dann werden Sie mich vielleicht verstehen. Im Schloss funktioniert das Telefon offenbar ausgezeichnet, wie man mir erzählt hat, wird dort ununterbrochen telefoniert, was natürlich das Arbeiten sehr beschleunigt. Dieses ununterbrochene Telefonieren hören wir in den hiesigen Telefonen als Rauschen und Gesang, das haben Sie gewiss auch gehört. Nun ist aber dieses Rauschen und dieser Gesang das einzige Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telefone übermitteln, alles andere ist trügerisch. Es gibt keine bestimmte telefonische Verbindung mit dem Schloss, keine Zentralstelle, welche unsere Anrufe weiterleitet. Wenn man von hier aus jemanden im Schloss anruft, läutet es dort bei allen Apparaten der untersten Abteilungen oder vielmehr es würde bei allen läuten, wenn nicht, wie ich bestimmt weiß, bei fast allen dieses Läutwerk abgestellt wäre. Hie und da aber hat ein übermüdeter Beamter das Bedürfnis, sich ein wenig zu zerstreuen, besonders am Abend oder bei Nacht, und schaltet das Läutwerk ein. Dann bekommen wir Antwort, allerdings eine Antwort, die nichts ist als Scherz. Es ist das ja auch sehr verständlich. Wer darf denn Anspruch erheben, wegen seiner privaten kleinen Sorgen mitten in der Nacht in die wichtigsten und immer rasend vor sich gehenden Arbeiten hineinzuläuten. Ich begreife auch nicht, wie selbst ein Fremder glauben kann, dass, wenn er z. B. Sordini anruft, es auch wirklich Sordini ist, der ihm antwortet. Vielmehr ist es wahrscheinlich ein kleiner Registrator einer ganz anderen Abteilung. Dagegen kann es allerdings in auserlesener Stunde geschehen, dass, wenn man den kleinen Registrator anruft, Sordini selbst die Antwort gibt. Dann freilich ist es besser, man läuft vom Telefon weg, ehe der erste Laut zu hören ist.“
„So habe ich das allerdings nicht angesehen“, sagte K., „diese Einzelheiten konnte ich nicht wissen, viel Vertrauen aber hatte ich zu diesen telefonischen Gesprächen nicht und war mir immer dessen bewusst, dass nur das wirkliche Bedeutung hat, was man geradezu im Schloss erfährt oder erreicht.“
„Nein“, sagte der Vorsteher, an einem Wort sich festhaltend, „wirkliche Bedeutung kommt diesen telefonischen Antworten durchaus zu, wie denn nicht? Wie sollte eine Auskunft, die ein Beamter aus dem Schloss gibt, bedeutungslos sein? Ich sagte es schon gelegentlich des Klamm‘schen Briefes. Alle diese Äußerungen haben keine amtliche Bedeutung; wenn Sie ihnen amtliche Bedeutung zuschreiben, gehen Sie in die Irre, dagegen ist ihre private Bedeutung in freundschaftlichem oder feindseligem Sinne sehr groß, meist größer als eine amtliche Bedeutung jemals sein könnte.“
„Gut“, sagte K., „angenommen, dass sich alles so verhält, dann hätte ich also eine Menge guter Freunde im Schloss; genau besehen, war schon damals vor vielen Jahren der Einfall jener Abteilung, man könnte einmal einen Landvermesser kommen lassen, ein Freundschaftsakt mir gegenüber und in der Folgezeit reihte sich dann einer an den andern, bis ich dann allerdings zum bösen Ende hergelockt wurde und man mir mit dem Hinauswurf droht.“
„Es ist eine gewisse Wahrheit in Ihrer Auffassung“, sagte der Vorsteher, „Sie haben darin recht, dass man die Äußerungen des Schlosses nicht wortwörtlich hinnehmen darf. Aber Vorsicht ist doch überall nötig, nicht nur hier, und desto nötiger, je wichtiger die Äußerung ist, um die es sich handelt. Was Sie dann aber vom Herlocken sagten, ist mir unbegreiflich. Wären Sie meinen Ausführungen besser gefolgt, dann müssten Sie doch wissen, dass die Frage Ihrer Hierherberufung viel zu schwierig ist, als dass wir sie hier im Laufe einer kleinen Unterhaltung beantworten könnten.“
„So bleibt dann das Ergebnis“, sagte K., „dass alles sehr unklar und unlösbar ist, bis auf den Hinauswurf.“
„Wer wollte wagen, Sie hinauszuwerfen, Herr Landvermesser“, sagte der Vorsteher „eben die Unklarheit der Vorfragen verbürgt Ihnen die höflichste Behandlung, nur sind Sie dem Anschein nach zu empfindlich. Niemand hält Sie hier zurück, aber das ist doch noch kein Hinauswurf.“
„Oh, Herr Vorsteher“, sagte K., „nun sind wieder Sie es, der manches allzu klar sieht. Ich werde Ihnen einiges davon aufzählen, was mich hier zurückhält: die Opfer, die ich brachte, um von zu Hause fortzukommen, die lange schwere Reise, die begründeten Hoffnungen, die ich mir wegen der Aufnahme hier machte, meine vollständige Vermögenslosigkeit, die Unmöglichkeit, jetzt wieder eine andere entsprechende Arbeit zu Hause zu finden, und endlich nicht zum wenigsten meine Braut, die eine Hiesige ist.“ „Ach Frieda“, sagte der Vorsteher ohne jede Überraschung. „Ich weiß. Aber Frieda würde Ihnen überallhin folgen. Was freilich das übrige betrifft, so sind hier allerdings gewisse Erwägungen