Franz Kafka – Das Schloss. Franz Kafka. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Kafka
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738028560
Скачать книгу
nichts“, sagte der Vorsteher, vergaß sogar den Fußschmerz und setzte sich aufrecht. „Nichts“, sagte K., „und wie verhält es sich mit meiner Berufung?“ „Auch Ihre Berufung war wohlerwogen“, sagte der Vorsteher, „nur Nebenumstände haben verwirrend eingegriffen, ich werde es Ihnen an der Hand der Akten nachweisen.“ „Die Akten werden ja nicht gefunden werden“, sagte K. „Nicht gefunden?“ rief der Vorsteher, „Mizzi, bitte, such ein wenig schneller! Ich kann Ihnen jedoch die Geschichte auch ohne Akten erzählen. Jenen Erlass, von dem ich schon sprach, beantworteten wir dankend damit, dass wir keinen Landvermesser brauchen. Diese Antwort scheint aber nicht an die ursprüngliche Abteilung, ich will sie A nennen, zurückgelangt zu sein, sondern irrtümlicherweise an eine andere Abteilung B. Die Abteilung A blieb also ohne Antwort, aber leider bekam auch B nicht unsere ganze Antwort; sei es, dass der Akteninhalt bei uns zurückgeblieben war, sei es, dass er auf dem Weg verloren gegangen ist – in der Abteilung selbst gewiss nicht, dafür will ich bürgen – jedenfalls kam auch in der Abteilung B nur ein Aktenumschlag an, auf dem nichts weiter vermerkt war, als dass der einliegende, leider in Wirklichkeit fehlende Akt von der Berufung eines Landvermessers handle. Die Abteilung A wartete inzwischen auf unsere Antwort, sie hatte zwar Vormerke über die Angelegenheit, aber wie das begreiflicherweise öfters geschieht und bei der Präzision aller Erledigungen geschehen darf, verließ sich der Referent darauf, dass wir antworten würden und dass er dann entweder den Landvermesser berufen oder nach Bedürfnis weiter über die Sache mit uns korrespondieren würde. Infolgedessen vernachlässigte er die Vormerke und das Ganze geriet bei ihm in Vergessenheit. In der Abteilung B kam aber der Aktenumschlag an einen wegen seiner Gewissenhaftigkeit berühmten Referenten, Sordini heißt er, ein Italiener, es ist selbst mir, einem Eingeweihten, unbegreiflich, warum ein Mann von seinen Fähigkeiten in der fast untergeordneten Stellung gelassen wird. Dieser Sordini schickte uns natürlich den leeren Aktenumschlag zur Ergänzung zurück. Nun waren aber seit jenem ersten Schreiben der Abteilung A schon viele Monate, wenn nicht Jahre vergangen, begreiflicherweise, denn wenn, wie es die Regel ist, ein Akt den richtigen Weg geht, gelangt er an seine Abteilung spätestens in einem Tag und wird am gleichen Tag noch erledigt, wenn er aber einmal den Weg verfehlt, und er muss bei der Vorzüglichkeit der Organisation den falschen Weg förmlich mit Eifer suchen, sonst findet er ihn nicht, dann, dann dauert es freilich sehr lange. Als wir daher Sordinis Note bekamen, konnten wir uns an die Angelegenheit nur noch ganz unbestimmt erinnern, wir waren damals nur zwei für die Arbeit, Mizzi und ich, der Lehrer war damals noch nicht zugeteilt, Kopien bewahrten wir nur in den wichtigsten Angelegenheiten auf – wir konnten nur sehr unbestimmt antworten, dass wir von einer solchen Berufung nichts wüssten und dass nach einem Landvermesser bei uns kein Bedarf sei.“ „Aber“, unterbrach sich hier der Vorsteher, als sei er im Eifer des Erzählens zu weit gegangen oder als sei es wenigstens möglich, dass er zu weit gegangen sei, „langweilt Sie die Geschichte nicht?“

      „Nein“, sagte K. „sie unterhält mich.“

      Darauf der Vorsteher: „Ich erzähle es Ihnen nicht zur Unterhaltung.“

      „Es unterhält mich nur dadurch“, sagte K., „dass ich einen Einblick in das lächerliche Gewirre bekomme, welches unter Umständen über die Existenz eines Menschen entscheidet.“

      „Sie haben noch keinen Einblick bekommen“, sagte ernst der Vorsteher, „und ich kann Ihnen weitererzählen. Von unserer Antwort war natürlich ein Sordini nicht befriedigt. Ich bewundere den Mann, trotzdem er für mich eine Qual ist. Er misstraut nämlich jedem, auch wenn er z. B. irgendjemanden bei unzähligen Gelegenheiten als den vertrauenswürdigsten Menschen kennengelernt hat, misstraut er ihm bei der nächsten Gelegenheit, wie wenn er ihn gar nicht kennen würde oder richtiger, wie wenn er ihn als Lumpen kennen würde. Ich halte das für richtig, ein Beamter muss so vorgehen, leider kann ich diesen Grundsatz meiner Natur nach nicht befolgen, Sie sehen ja, wie ich Ihnen, einem Fremden, alles offen vorlege, ich kann eben nicht anders. Sordini dagegen fasste unserer Antwort gegenüber sofort Misstrauen. Es entwickelte sich nun eine große Korrespondenz. Sordini fragte, warum es mir plötzlich eingefallen sei, dass kein Landvermesser berufen werden solle, ich antwortete mithilfe von Mizzis ausgezeichnetem Gedächtnis, dass doch die erste Anregung vom Amt selbst ausgegangen sei (dass es sich um eine andere Abteilung handelte, hatten wir natürlich schon längst vergessen). Sordini dagegen: warum ich diese amtliche Zuschrift erst jetzt erwähne, ich wiederum: weil ich mich erst jetzt an sie erinnert habe, Sordini: das sei sehr merkwürdig, ich: das sei gar nicht merkwürdig bei einer so lange sich hinziehenden Angelegenheit, Sordini: es sei doch merkwürdig, denn die Zuschrift, an die ich mich erinnert habe, existiere nicht, ich: natürlich existiere sie nicht, weil der ganze Akt verloren gegangen sei, Sordini: es müsste aber doch ein Vormerk hinsichtlich jener ersten Zuschrift bestehen, der aber bestehe nicht. Da stockte ich, denn dass in Sordinis Abteilung ein Fehler unterlaufen sei, wagte ich weder zu behaupten noch zu glauben. Sie machen vielleicht, Herr Landvermesser, Sordini in Gedanken den Vorwurf, dass ihn die Rücksicht auf meine Behauptung wenigstens dazu hätte bewegen sollen, sich bei andern Abteilungen nach der Sache zu erkundigen. Gerade das aber wäre unrichtig gewesen, ich will nicht, dass an diesem Manne auch nur in Ihren Gedanken ein Makel bleibt. Es ist ein Arbeitsgrundsatz der Behörde, dass mit Fehlermöglichkeiten überhaupt nicht gerechnet wird. Dieser Grundsatz ist berechtigt durch die vorzügliche Organisation des Ganzen und er ist notwendig, wenn äußerste Schnelligkeit der Erledigung erreicht werden soll. Sordini durfte sich also bei anderen Abteilungen gar nicht erkundigen, übrigens hätten ihm diese Abteilungen gar nicht geantwortet, weil sie gleich gemerkt hätten, dass es sich um Ausforschung einer Fehlermöglichkeit handle.“

      „Erlauben Sie, Herr Vorsteher, dass ich Sie mit einer Frage unterbreche“, sagte K., „erwähnten Sie nicht früher einmal eine Kontrollbehörde? Die Wirtschaft ist ja nach Ihrer Darstellung eine derartige, dass einem bei der Vorstellung, die Kontrolle könnte ausbleiben, übel wird.“

      „Sie sind sehr streng“, sagte der Vorsteher, „aber vertausendfachen Sie Ihre Strenge und sie wird noch immer nichts sein, verglichen mit der Strenge, welche die Behörde gegen sich selbst anwendet. Nur ein völlig Fremder kann Ihre Frage stellen. Ob es Kontrollbehörden gibt? Es gibt nur Kontrollbehörden. Freilich, sie sind nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor, und selbst wenn einmal ein Fehler vorkommt, wie in Ihrem Fall, wer darf denn endgültig sagen, dass es ein Fehler ist.“

      „Das wäre etwas völlig Neues“, rief K.

      „Mir ist es etwas sehr Altes“, sagte der Vorsteher. „Ich bin nicht viel anders als Sie selbst davon überzeugt, dass ein Fehler vorgekommen ist, und Sordini ist infolge der Verzweiflung darüber schwer erkrankt, und die ersten Kontrollämter, denen wir die Aufdeckung der Fehlerquelle verdanken, erkennen hier auch den Fehler. Aber wer darf behaupten, dass die zweiten Kontrollämter ebenso urteilen und auch die dritten und weiterhin die andern?“

      „Mag sein“, sagte K., „in solche Überlegungen will ich mich doch lieber noch nicht einmischen, auch höre ich ja zum ersten Mal von diesen Kontrollämtern und kann sie natürlich noch nicht verstehen. Nur glaube ich, dass hier zweierlei unterschieden werden müsse, nämlich erstens das, was innerhalb der Ämter vorgeht und was dann wieder amtlich so oder so aufgefasst werden kann, und zweitens meine wirkliche Person, ich, der ich außerhalb der Ämter stehe und dem von den Ämtern Beeinträchtigung droht, die so unsinnig wäre, dass ich noch immer an den Ernst der Gefahr nicht glauben kann. Für das erstere gilt wahrscheinlich das, was Sie, Herr Vorsteher, mit so verblüffender außerordentlicher Sachkenntnis erzählen, nur möchte ich aber dann auch ein Wort über mich hören.“

      „Ich komme auch dazu“, sagte der Vorsteher, „doch könnten Sie es nicht verstehen, wenn ich nicht noch einiges vorausschickte. Schon dass ich jetzt die Kontrollämter erwähnte, war verfrüht. Ich kehre also zu den Unstimmigkeiten mit Sordini zurück. Wie erwähnt, ließ meine Abwehr allmählich nach. Wenn aber Sordini auch nur den geringsten Vorteil gegenüber irgendjemandem in Händen hat, hat er schon gesiegt, denn nun erhöht sich noch seine Aufmerksamkeit, Energie, Geistesgegenwart, und er ist für den Angegriffenen ein schrecklicher, für die Feinde des Angegriffenen ein herrlicher Anblick. Nur weil ich in anderen Fällen auch dieses Letztere erlebt habe, kann ich so von ihm erzählen, wie ich es tue. Übrigens ist es mir noch nie gelungen, ihn mit Augen zu sehen,