Es war ein herrlicher Abend. Auf den breiten Wegen und freien Plätzen lagen schon die tiefen langen Schatten der einbrechenden Dämmerung, und die letzten Strahlen der scheidenden Sonne vergoldeten die Gipfel der Bananen- und Brotbäume, der Palmen und Papayas, die in üppigem Wachstum malerisch geordnet die Häuser umgaben. Überall heiteres Spiel der Kinder auf Straße und Plätzen; watschelnde Gänse und kollernde Truthähne, Hühner und Enten drängten sich in Scharen friedlich zwischen den Menschen herum. Auf der Anhöhe, halb in Bäumen versteckt, stand ein schönes Bai; in seinen Fenstern saßen zahlreiche Armungul, unter denen einzelne mich schon in Aibukit und Kreiangel gesehen haben wollten. Dann umgab dichtes Gebüsch die Straße, die immer höher anstieg; auf einer großen Wiese grasten Hunderte von Kühen und Stieren, und zwischen den Wald hindurch fiel mein Blick auf die spiegelnde Fläche des nahen Meeres. Ich wollte über die starke Umzäunung wegsteigen, da ich so lange kein Rindvieh in der Nähe gesehen hatte und dies gewiss die Abkömmlinge jener Tiere waren, welche die Ostindische Compagnie vor nun reichlich siebzig Jahren an Ebadul von Coröre schenkte. Aber der Freund meines Bruders warnte mich. „Die Tiere sind sehr böse; niemand von uns darf auf die Wiese. Wenn Cabel Schils Ochsen haben will, so müssen wir sie schießen. Früher liefen sie frei im Dorfe herum; aber da sie bald wild wurden, einige Leute verwundeten und unsere Gärten zerstörten, so haben wir sie hier auf die Wiese getrieben und den Zaun gemacht, dass sie nicht mehr heraus können. Es wäre besser gewesen, wenn Cabel Wils uns die Tiere nicht gebracht hätte; sie nützen uns doch nichts. Aber Ebadul will sie nicht alle töten; er sagt, das sei ein Andenken an den ersten Rupack von Angabard, der den Knochenorden bekommen hätte.“ - Die Sonne war längst in ihr Haus eingekehrt, und die Dämmerung wich rasch der einbrechenden Nacht. Hier und da begegneten uns schon Männer mit angezündeten Fackeln, mit deren grellem Lichte der blaue Schein des vollen Mondes merkwürdig im Dunkel der Nacht kontrastierte. Als ich in Aidil wieder ankam, fand ich Ebadul schon nicht mehr vor; er war nur kurze Zeit in seinem Hause gewesen und hatte sich bald nach eingenommener Mahlzeit mit Aituro in sein Bai begeben.
Früh am nächsten Tage ließ ich mich durch Arakalulk in das Bai der Rupacks führen, um hier Ebadul meinen Besuch abzustatten. Der gutmütig aussehende, wohlbeleibte und etwas ältliche Fürst saß bereits emsig bei seiner Arbeit. „Good morning, Ebadul, sagte ich, nachdem ich der Sitte gemäß schweigend ins Bai gestiegen war und mich ihm gegenüber nieder gehockt hatte, „schon so früh so fleißig?“ „Ja Doktor, das ist mein Gebrauch so, ich bin sehr geschickt im Drillen der Taue, und ich als König muss meinen Leuten ein Beispiel geben. Bringst du Neuigkeiten?“ - „Nein, Ebadul, ich komme, hier Neues zu hören und zu sehen; was sollte sich auch in Aibukit Wichtiges ereignen? Wir wollen bald abreisen nach Manila; und ich wollte Palau nicht verlassen, ohne dein Land gesehen zu haben.“ - „Mein Land? das hast du auch in Ngirrarth (Mit diesem Namen bezeichneten die Bewohner von Coröre den Staat Aibulit mit seinen Vasallenstaaten; das Wort „Aibukit“ hörten sie im Gespräch ebenso ungern wie einige andere (auka rack), für welche im Süden andere Bezeichnungen im Gebrauch sind) gesehen, ich bin König von ganz Palau.“ - „Nun ja, ich meinte auch nur diese Insel hier und ganz besonders den Kokeal. Einer von deinem Volk hat mir viel davon erzählt, und nun bin ich neugierig geworden, die Inseln des Kokeal selbst zu sehen.“ - „Das kannst du tun, Doktor, ein Amlai wirst du schon finden, und weit ist es nicht von hier. Doch nun komm mit nach Aidil, heute kannst du doch nicht mehr fort - siehst du die Wolken dort? Es wird bald regnen - und in meinem Hause will ich dir etwas Schönes zeigen, das book von Cabel Wils.“
Es war hohe Zeit, dass wir gingen. Die Kronen der Palmen rauschten schon mächtig im anziehenden Sturmwinde, und zwischen den düsteren Wolken blickten nur kleine Fetzen des blauen Himmels durch. Bald fielen auch große Tropfen schwer auf die Blätter der Bäume. Über die Straßen eilten Kinder und Weiber, um in ihre Wohnungen zu kommen, und als wir durch die niedrigen Türen von Aidil eintraten, hatte der Sturm seine volle Gewalt entfesselt. Dem furchtbaren, von der Windsbraut gepeitschten Guss folgte bald ein stetiger, kräftiger Regen und hielt, mir sehr zur Freude, die Gäste aus dem sonst immer vollen Hause meines königlichen Wirtes fern.
Ebadul gab bald seiner Frau den Befehl, das Buch aus der Kiste zu holen. „Siehst du, Doktor, das ist das book, das uns Cabel Wils schickte, als Libu dort in Angabard gestorben war. Das zeige ich nur guten Freunden und großen Rupacks; es ist ein kostbares Gut, und wir halten es höher, als die steinernen Beile und Meißel, mit denen unsere Eltern ihre Häuser zimmerten und die Amlais aushöhlten. Solche Beile haben sie auch in Ngirrarth, aber das book ist nur hier. Da, Doktor, nimm es um drin zu lesen, wenn du Lust hast; ich muss jetzt fort, und nachher kannst du mir erzählen, was alles darin steht.“
Mit eigentümlicher Empfindung nahm ich das mir wohlbekannte Buch in die Hand, das nun schon mehr als siebzig Jahre hier bewahrt worden war. Wie oft wol mochte jener Ebadul, der Wilson seinen Sohn mitgab, damit er im fremden Lande etwas lernen solle, das Bildnis seines toten Sohnes betrachtet haben! Wie manche Träne hatte unbemerkt in stillen Augenblicken wohl die Mutter über ihren verlorenen Liebling vergossen! Zwar dem Volke zeigen durften sie ihren Schmerz nicht; galt es doch von jeher in Palau für eine Eigenschaft vor allem der Fürsten, weder Schmerz noch Zorn, weder Überraschung noch Ärger erkennen zu lassen oder ihm andern als würdigen Ausdruck zu geben. Wohl empfinden auch diese „wilden Kopfjäger“ - die wir so gern mit christlicher Nächstenliebe („Gnade vor eurer Liebe“ - Gesammelte Novellen in Versen von Paul Heyse (Urica, S. 146)) an unsere Kriegführung gewöhnen möchten - Regungen des Mitleids und der Teilnahme für andere; auch ihnen klopft ein Herz in der Brust, und der tiefsten, leidenschaftlichsten Erregung und Hingabe sind auch sie so gut fähig wie höher begabte und weiter fortgeschrittene Völker. Aber in die gewissenhafteste Erfüllung der alten Gebräuche setzen sie alle ihren höchsten Stolz; darum drängen sie ihre Gefühle gewaltsam zurück, denn es ist „schlechte Sitte“, der inneren Erregung auch leidenschaftliche Worte zu leihen. Als Ebadul, der Vater jenes Libu, von dem Tode seines Sohnes hörte, sagte er, nur mühsam seine Fassung sich erhaltend: „Es ist gut, es ist gut.“
Man sah dem Buche die rührende Pietät an, mit welcher dieses Völkchen an allem hängt, was seine Väter betrifft; kein Blatt war zerrissen oder beschmutzt, der Einband so sauber, als hätte er die ganze Zeit her in dem Schranke eines Bibliothekars gestanden, der seine Bibliothek als ein kostbares, durch keine Hand eines Lesers zu entweihendes Heiligtum betrachtet, Die Bilder zeigte mir Ebadul's Frau, sie erklärte mir alle mit innigstem Behagen; wie gönnte ich der guten Frau die kleine Freude. Dann ließ sie mich weiter blättern; ich vertiefte mich in die reizende Erzählung vom Ende des jungen Prinzen. Geliebt von allen, die ihn kannten, starb er im fremden Lande mit stoischer Ruhe; und seinem Andenken widmete die mächtige Ostindische Compagnie ein eigenes Monument auf dem Kirchhofe zu Rotherhithe. Fast gedankenlos las ich die auch im Buche mitgeteilte Inschrift: „To the Memory of Prince Lee Boo, a native of the Pelew, or Palos islands; and son to Abba Thule, Rupack or King of the Islands Coroora“ - halt, was ist das, habe ich recht gelesen? Rupack oder King der Insel Coröre (Coroora)? So bezeugen also die Engländer selbst, dass Ebadul nicht König von ganz Palau ist - jetzt aber tut er doch immer, als ob er solcher sei? Nachdenkend, wie wohl dieser Widerspruch zu lösen wäre, blättere ich weiter; da auf einmal fällt zwischen den letzten Blättern ein Manuskript heraus. Was mag das sein? Beim Himmel, das ist interessant! „Eine Konstitution von Palau“ und hier daneben „Ein Handelstraktat zwischen Ebadul, König der Palau-Inseln, dem Fürsten von Coröre und Andrew Cheyne!“
Wie freute ich mich nun des Regens, der mir Zeit gab, eine Kopie dieser interessanten Dokumente zu nehmen. Es waren nur Kopien; die Originale waren angeblich, wie ich später erfuhr, im englischen Konsulat