Nachdem sie zwei Stunden im Krankenhaus verbracht hat, fiel Neve zu Hause in ihr Bett und ist am nächsten Morgen bis in die tiefste Faser ihres Körpers erschrocken, entsetzt aber auch zugleich beeindruckt, dass Sam tatsächlich an ihrem Tisch im Klassenzimmer sitzt. Sie selbst gibt sich große Mühe, ihre Schmerzen zu verbergen. Sie hätte sich natürlich krankschreiben lassen können, aber das wollte sie bewusst nicht. Sie wollte sehen, ob Sam den Arsch in der Hose hat und ihr noch unter die Augen treten kann. Und das scheint sie offensichtlich zu können.
Aber anstatt wie immer, wie ein Kartoffelsackverträumt in ihrem Stuhl zu hängen, sitzt Sam stocksteif auf ihrem Platz und hat den Kopf so tief gesenkt, dass ihr Gesicht fast eine parallele Ebene mit dem Tisch ergibt.
»Ms. Rodriguez!«, spricht Neve ihre Schülerin in der Mitte der Stunde an, die darauf aber nicht reagiert.
»Ms. Rodriguez!!«, wiederholt sie. Wie beim Paukenschlag reißt Sam plötzlich ihren Kopf hoch. Sie schaut ihre Lehrerin mit einem solch hasserfüllten Blick an, dass Neve sofort das Blut in den Adern gefriert. Sie hat mittlerweile ja schon einige Blicke von Sam kennengelernt, aber dieser jetzt könnte vom Teufel persönlich sein.
Neve versucht sich nicht verunsichern zu lassen, obwohl sie zugeben muss, dass dieser Blick ihr durch und durch geht. Er treibt ihr den Angstschweiß auf die Stirn.
»Bitte kommen sie nach vorne zur Tafel und lösen die dort geschriebenen Aufgaben.« Wie eine Furie schießt Sam von ihrem Stuhl hoch. Mit lauten Schritten stampft sie auf ihre Lehrerin zu. Die hält ihr ein Stück Kreide entgegen. Anstatt dieses zu nehmen, stürmt Sam an ihr vorbei, greift an der Tafel nach einem neuen Kreidestück und beginnt nach und nach die Aufgaben zu lösen.
Mit dem Rücken zur Tafel, steht Neve fünf Schritte neben Sam und beobachtet sie dabei, wie sie in ihrer mittlerweile gewohnten Geschwindigkeit die Aufgaben löst, bis ihr auffällt, dass Sam die Kreide ungewöhnlich hart auf die Tafel setzt und die Zahlen schreibt. Sie schaut etwas genauer hin und sieht, dass Sams Hand vor Kraft und Anstrengung so stark zittert, dass die Kreide plötzlich in der Mitte zerbricht. Wie erstarrt steht Sam mit hochgezogenem Arm an der Tafel. Als Neve sie darauf ansprechen will, glaubt sie ihren Augen nicht zu trauen. Sie sieht, wie eine Träne an Sams Wange herunterläuft.
»Ms. Rodriguez?«, fragt Neve besorgt und macht einen Schritt auf ihre Schülerin zu. Plötzlich reißt Sam ihren Kopf in ihre Richtung. Schlagartig gefriert Neve erneut das Blut in den Adern. Sam weint! Ihr hasserfüllter Blick ist totaler Verzweiflung gewichen. Neve kann in ihren Augen erkennen, wie leid ihr die Sache von letzter Nacht tut.
Bevor sie auch nur eine Handbewegung machen kann, dreht sich Sam blitzschnell um und rennt aus dem Klassenzimmer. Genauso schnell wie sie die Flucht ergriffen hat, springt Laura von ihrem Stuhl auf und rennt ihrer Freundin hinterher. Wie gelähmt bleibt Neve an der Tafel stehen.
LEVEL 3
Am Abend bereitet Neve den Unterricht für den nächsten Tag vor, als es an der Haustür klingelt. Überrascht, wer zu dieser späten Stunde bei ihr klingelt, steht sie vom Bürostuhl auf. Sie ist dankbar für diese kleine Ablenkung. In den letzten Stunden konnte sie sich eh nicht richtig auf das konzentrieren, was für sie alltäglich ist. Sie dachte dauerhaft über Sam nach und hatte ihr verweintes Gesicht vor Augen. Eigentlich müsste sie Sam, für das was sie getan hat, hassen. Aber aus unerfindlichen Gründen spürt sie, dass sie es nicht kann. Sie kann Sam nicht wütend sein und weiß nicht warum. Im Gegenteil, irgendwie hat sie Verständnis und Mitleid mit ihr.
Von ihren verworrenen Gedanken gefangen, öffnet Neve die Tür und verharrt in der Bewegung. Mit einem spöttischen Grinsen steht ihr Sam gegenüber.
»Woher weißt du wo ich wohne?«, faucht sie sofort. Sam reagiert nicht.
»Preston, hm?«, fragt sie stattdessen und blickt auf das Namensschild.
»Gefällt mir sowieso besser als Stewart«, stichelt sie Neve auf den falschen Nachnamen an. Es scheint, als ob die gewohnt rotzfreche Sam vor ihr steht und der Vorfall in der Schule heute Vormittag, nicht passiert wäre.
»Ich habe dich gefragt, woher du weißt wo ich wohne«, giftet Neve weiter. Sam schmunzelt.
»Ich bin ein Five Dog und habe überall meine Quellen. Es hat zwar, wegen deinem falschen Nachnamen, etwas länger gedauert als mir lieb war, aber ich kriege alles irgendwann heraus«, grinst sie bis zu den Ohren und schaut Neve erwartungsvoll an.
»Darf ich reinkommen?«
»Ich wüsste keinen Grund, weshalb ich dich rein bitten sollte«, schimpft Neve aufgebracht. Sie kann nicht glauben, dass es offensichtlich doch recht leicht ist, ihren Wohnsitz herauszubekommen. Hervorragend, diese Information brauchte sie jetzt auch noch.
»Ich wüsste da schon einen guten Grund. Du bist unsterblich in mich verliebt. Am liebsten würdest du mich jetzt an Ort und Stelle flachlegen, nur weil du es nicht mehr aushältst«, grinst Sam frech. Mit einem heftigen Schwung schlägt Neve ihr die Tür vor der Nase zu.
Kochend vor Wut und mit bebendem Herzen, steht Neve an der geschlossenen Tür. Sie kann nicht glauben was da eben abgelaufen ist. Dieses Miststück bildet sich verdammt viel auf sich ein. Aber wenn Neve ehrlich zu sich ist……
Vorsichtig schiebt sie eine Gardine zur Seite und sieht, dass Sam geschlagen in ihren Wagen einsteigt. Sie hat die geschlossene Tür als eindeutige Antwort verstanden und respektiert diese Entscheidung. In Neve verhärtet sich die Gewissheit, dass Sam, tief in ihrer Seele, nicht so ist, wie sie sich nach außen hin gibt.
Enttäuscht dreht Sam den Zündschlüssel, genießt wie immer das kraftvolle Grollen des Wagens und blickt noch einmal zur Haustür. Diese steht plötzlich weit offen. Das Licht des Hauses scheint über den kleinen Gehweg. Sam zieht erfreut eine Augenbraue hoch, stellt den Wagen aus und nimmt diese offenkundige Einladung an.
Leise betritt sie das Haus. Sie erwartet, Neve irgendwo zu sehen. Aber sie scheint vom Erdboden verschluckt worden zu sein. Vorsichtig schließt sie die Haustür.
»Du kannst einen Kaffee haben und dann verschwindest du wieder, verstanden?«, faucht Neve, als sie hinter sich hört, dass Sam die Küche betritt. Es kommt nur ein kurzes »Danke!« von ihr, dann wird es still im Raum. Neve tut sich schwer, so zu tun, als würde sie sich darauf konzentrieren, den Kaffee aufzusetzen.
»Darf ich ehrlich sein?«, fragt Sam zurückhaltend. Neve weiß nicht auf was das hinauslaufen soll, nickt aber dennoch.
»Du hast dein Haus zwar schön eingerichtet, aber wer diese Mauern gebaut hat, war entweder eine absolute Niete, oder high.« Mit fragendem Blick, dreht sich Neve zu Sam um. Unaufgefordert setzt sich Sam an den Küchentisch und zückt Stift und Papier.
Neve tritt näher an sie heran. Nach ein paar Sekunden sieht sie, wie Sam, flink aber unglaubliche präzise den Grundriss ihres gesamten Hauses auf dieses kleine Stück Papier zaubert. Sie schreibt in jedes gemalte Kästchen die Bezeichnungen der einzelnen Räume und blickt zu Neve hoch. Sie spürt ihren wütenden Blick im Nacken.
»Ich habe mir erlaubt, auf dem Weg hierher, ein Blick in jedes Zimmer zu werfen«, schmunzelt sie unsicher. Sie tippt auf einen Raum, der sich direkt neben der Haustür befindet. Dort steht Esszimmer.
»Ich verwette meinen Arsch, dass du diesen Raum schon lange nicht mehr betreten hast und der Esszimmertisch schon an Altersschwäche zusammenbricht, weil er nichts mehr zu tun hat.« Fragend blickt sie zu Neve hoch, die wegen dieser Aussage nur nicken kann. Das stimmt, aber woher…?
Sam tippt mit dem Bleistift auf das Kästchen der Küche und dann wieder auf das Esszimmer. Die beiden Kästchen wirken auf dem Blatt, als wenn beide Räume eine Ewigkeit voneinander entfernt wären.
»Ich hätte ehrlich gesagt auch keinen Bock, ständig das Geschirr einen halben Kilometer