Thea löste sich aus der Umarmung und kniete zu ihrem Bruder nieder. Behutsam ergriff sie seine Hände. „Erkennst du mich denn gar nicht?“
„Wir haben ein Bild von dir im Wohnzimmer stehen. Mama und Papa haben immer von dir gesprochen. Sie haben mir aber nie gesagt, wohin du gegangen bist.“ Sein Blick fiel auf Kyndill.
„Das hätte auch eher an ein Märchen erinnert“, antwortete Thea betrübt. Sie sah zu ihrem Vater. „Zuletzt waren wir in Hel ...“ Lokis Worte drangen in ihr Gedächtnis. „Er hatte Recht. Loki sagte, der Strom der Zeit würde ihn Hel anders verlaufen.“ Sie warf einen Blick zu Tom und Juli, die diesen erschüttert erwiderten.
„Thor sagte, es ist noch nicht so weit, dass ihr zurück nach Midgard kommt“, flüsterte ihre Mutter.
„Setzt euch!“, erneuerte Sif ihre Aufforderung. Sie kam heran, nahm sanft die Hand der Mutter und führte sie an den Tisch. Die Fylgja blieb mit zufriedenem Blick zurück und rollte sich zum Schlafen vor der Tür ein.
Mirjana Helmken schloss Juli und Tom in die Arme, bevor sie neben Juli Platz nahm. Thea setzte sich zu ihr, gleich dann folgte ihr Vater. Auch er ließ sich nicht nieder, ohne zuvor Juli und Tom zu begrüßen. Etwas verhalten rückte Mats an den Tisch. Seine Achtsamkeit ruhte auf Thor, der ihm freundlich zuzwinkerte.
„Keine Sorge, Junge. In Asgard brauchst du nichts und niemanden zu fürchten.“
„Zwei Jahre, Thor?“, wiederholte Thea mit Schrecken. Sie griff nach dem Arm ihrer Mutter. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie sich ihre Eltern in der Zeit gefühlt hatten. „Wie ist das möglich?“
Thor seufzte. „Das hat irgendwie mit Hel zu tun.“
Baba Jaga nickte bestätigend. „Loki hat dir nichts vorgemacht.“
„Aber ...“ Thea versuchte das Gehörte zu verstehen, doch es gelang ihr nicht.
„Wie kann das sein?“, sprach Juli die Frage aus. „Wir haben uns dort nicht in Zeitlupe bewegt und tot sind wir auch nicht. Also nicht wirklich ...“ Sie sah zu Thea, die sie mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen brachte.
Baba Jaga schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Das lässt sich schwer erklären. Odin sagt, die Zeit dort ist einfach eine andere. Man merkt es nicht, wenn man sich in ihr bewegt.“
„Hat Odin das gewusst, bevor er uns dort hingeschickt hat?“, schnappte Thea.
„Nein. Niemand von uns war je lang genug in Hel gewesen, um das festzustellen“, erwiderte Thor.
„Und du? Hast du zwei Jahre vor Utgard-Lokis Feste gesessen und gewartet?“, staunte Juli.
Thor fasste sich an den Hinterkopf. „Nicht ganz“, lachte er. „Aber ja. Für uns fühlen sich zwei Jahre nicht so an wie für euch. Denk an Odin und Frigg. Ein Streit zwischen ihnen kann rasch zwei Wochen dauern.“
„Unsere armen Eltern“, brummte Tom.
„Es tut mir so leid“, sagte Thea.
Theas Vater seufzte. „Es war nicht leicht. Wir wussten, wo du bist. Toms Mutter hingegen hat alle Hoffnungen fahren lassen.“ Er sah zu ihm. „Sie fürchtet, dich nie wieder zu sehen.“
Tom schüttelte den Kopf. „Die ärmste.“
„Wolltet ihr euch nicht darum kümmern, sie zu informieren?“, murrte Juli.
Der Donnergott brummelte abwehrend. „Wal-Freya hat das übernommen.“
Mirjana nickte. „So war es. Einige Wochen, nachdem ihr fortgegangen seid, kamen Walküren und teilten uns mit, dass wir uns auf eure Rückkehr gedulden müssen.“
Der Vater seufzte bestätigend. „Weißt du, wie schwer es mir zunächst fiel, deiner Mutter zu glauben, dass du zusammen mit Juli und Tom nach Asgard aufgebrochen bist? Ich dachte, sie hätte den Verstand verloren. Ehe diese Frauen auftauchten, ging ich davon aus, sie einweisen zu müssen.“
„Es tut mir leid. Wal-Freya hielt es für eine gute Sache, euch nicht wieder im Unklaren über unseren Aufenthaltsort zu lassen. Du warst leider nicht da, um es dir ebenfalls zu zeigen.“
„Diese Sigrún konnte mich davon überzeugen, dass deine Mutter nicht verrückt geworden ist. Besser gemacht hat es das aber nicht. Nach zwei Monaten warst du noch immer nicht zurück. Wir machten uns große Sorgen. Von den nordischen Göttern fehlte bis zum heutigen Tag jede Spur.“ Mit leichtem Vorwurf blickte er zu Thor.
„Sieh mich nicht an, ich war beschäftigt“, erwiderte dieser mit erhobenen Händen. Dann schnappte er sich ein Stück Fleisch und stopfte es in den Mund. „Jetzt seid ihr ja da. Nutzt die Zeit lieber. Bedient euch und sprecht miteinander.“
Thea blickte zu ihrer Fylgja, die unverwandt vor der Haustür lag und schlief. „Ich habe Großvater getroffen“, sagte sie unerwartet. „Ich soll dich grüßen, Mama.“
Ihre Mutter staunte. „Großvater?“
Abwechselnd erzählten sie von ihren Abenteuern, davon, wie sie Fenrir jagten, auf Baba Jaga und Angrboda stießen und sie die Spur von Lokis Sohn schließlich verloren. Sie beschrieben ihren Weg durch Hel und dass Balder nach Lokis Verrat die Entscheidung traf, in der Unterwelt zu bleiben. Die gefährlichen Situationen sparten sie aus. Immer wenn jemand von ihnen drohte, zu viel zu offenbaren, fielen sie sich gegenseitig ins Wort.
„Und nun müssen wir nach Muspelheim, um Midgards Vernichtung zu verhindern“, schloss Juli.
„Das Schärfste hätten wir fast vergessen. Thea kann jetzt zaubern, so richtig!“, fügte Tom hinzu. Er sah sie mit einem Stolz an, der Thea peinlich berührte.
„Nur ein bisschen“, wehrte sie ab.
Tom lachte. „Ein bisschen? Sie kann Dinge bewegen und Luftblasen zaubern ...“
Zum ersten Mal, seit sie das Gespräch begonnen hatten, meldete sich Mats zu Wort: „Echt? Sie zaubert?“ Er griff nach einem Pfannkuchen.
Sein Vater sah ihn streng an. „Dir ist klar, dass du niemandem davon erzählen darfst.“
Baba Jaga winkte ab. „Das würde keiner glauben.“
„Trotzdem! Nicht auszudenken, was passiert, wenn er auf dem Schulhof erzählt, dass seine Schwester nach Asgard gereist ist, um den Untergang der Welt zu verhindern ...“
Thor lachte. „In früheren Zeiten hätte man euch und eure ganze Sippe dafür verehrt und mit Geschenken überhäuft.“
„Wie sich Dinge ändern. Heute wandert man dafür zum Psychologen“, kicherte Juli.
Sif rückte ihren Teller vor. „Das ist bedauerlich.“
Alle nickten. Im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Die Fylgja sprang mit einem erstaunten Laut zur Seite. Sämtliche Aufmerksamkeit richtete sich auf die Person, die im Türrahmen stand.
„Hier steckt ihr. Wir warten auf euch“, sagte Wal-Freya und geriet sofort ins Stocken, als sie die drei Menschen entdeckte, die mit Thea am Tisch saßen. „Mirjana, Thorsten, Mats“, erkannte sie. Rügend wanderte ihr Blick zu Thor. „Du hast sie hierher gebracht?“
„Wenn Thea nicht zu ihnen kann, dann müssen sie eben zu ihr“, erwiderte der Donnergott leichthin.
Die oberste der Walküren trat auf Mats zu, strich ihm übers Haar und begrüßte erst Theas Vater, ehe sie Mirjanas Hand in die ihre schloss. „Verzeih uns. Erneut benötigen wir die Hilfe deiner Tochter. Du wirst dich noch einmal auf ihre Rückkehr gedulden müssen.“
„Das wissen wir“, sagte Mirjana leise.
„Hätten wir eine Wahl, würden wir es verbieten“, nickte der Vater.
„Ihr