„Das stimmt wohl“, brummte Thea. Sie klopfte sich die Hose ab und umfasste Djarfurs Hals, um sich mit einem Sprung auf seinen Rücken zu schwingen.
Der Rappe schüttelte den Kopf. „Ich liebe es, wenn wir zusammen reiten, meine Heldin.“ Er galoppierte los und hob sich nur wenige Schritte danach in die Luft. Thea waren Höhen noch immer nicht geheuer, aber langsam gewöhnte sie sich daran. Das unangenehme Ziehen, das stets durch ihren Magen fuhr, wenn sie in die Tiefe blickte, machte sich auf Djarfurs Rücken kaum noch bemerkbar. Sie vertraute dem Tier und fühlte sich in seiner Begleitung sicher. Er hatte sie in den letzten Tagen oft aufgesucht und zu einem Ritt um Asgards Götterburg eingeladen. In diesen Momenten rückte ihre Schwermut für einen Augenblick in weite Ferne. Rasch überquerte er die Wiese, auf der sich Yggdrasils Wurzel erstreckte und fegte über die Wohnungen der anderen Asen hinweg, die den Weg zu Odins Palast säumten. Die Fylgja sprang neben ihnen durch die Luft, gerade so, als begrüße sie die Abwechslung. Auf der großen Terrasse Gladsheims setzte Djarfur seine Reiterin ab. Er verabschiedete sich von Thea und kehrte nach Folkwang zurück.
Sie lief auf den Eingang der Halle zu, die sich weithin sichtbar über Asgard erhob. Schon bevor Thea eintrat, empfing sie der Duft von gebratenem Huhn, vermischt mit dem Geruch gebackener Pfannkuchen. Ihr Blick fiel auf die schwere Tafel, die vor dem erhöhten Sitz des Allvaters stand. Sie war mit den gewohnt köstlichen Speisen Asgards angerichtet. Guter Dinge hockten die Götter beisammen, aßen und tranken. Mit Theas Erscheinen erstarben die Gespräche. Freudig begrüßten sie den Neuankömmling und warteten, bis sich Thea auf dem freien Platz neben Wal-Freya eingefunden hatte. Die Walküre legte ihr zur Begrüßung die Hand auf die Schulter, steckte aber sofort wieder den Kopf mit Freyr zusammen. Ebenso führten alle anderen Götter ihre Unterhaltungen fort. Juli zwinkerte Thea zu, lud ihren Teller voll und folgte den Gesprächen ihrer Tischnachbarn. Zu ihrer Rechten saß Tom, der erfreut lächelte, als ihn Theas Blick traf. Sie wich ihm ertappt aus. Auch ihr Freund war ein Grund dafür, dass sie sich in den letzten Tagen zurückgezogen hatte. Bestärkt durch Wal-Freyas Ermutigungen, hatte er Thea seine Zuneigung gestanden. Sie hatte diese längst gekannt und den Moment herbeigefürchtet, da er es offen aussprach. Sie mochte Tom, vielleicht mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte, doch neben dem schlechten Gewissen, das sie Juli gegenüber empfand, die noch immer für Tom schwärmte, war da noch Geirunn. Treu und unermüdlich wartete ihre einstige Gefährtin auf sie in der Totenwelt. Wie sollte Thea jemals etwas für einen anderen Menschen empfinden? Mit abgewendetem Blick zog sie sich eine Schale mit Krapfen heran. Die Fylgja rollte sich hinter dem Stuhl ihres Schützlings zusammen und schloss die Augen, während sich Thea an den Speisen bediente. Odin thronte auf seinem erhöhten Sitz und überblickte die Versammlung mit versteinerter Miene. Die Wölfe Geri und Freki lagen zu seinen Füßen und schliefen. Hugin und Munin fehlten. Offensichtlich befanden sich die beiden Raben auf ihrem Flug durch die Welt. Thea lauschte hier und da den Unterhaltungen und wartete gebannt, dass der Allvater sich äußerte, doch er ließ darauf warten. Viel später rückte er sich räuspernd in seinem Sitz zurecht. Alle verstummten und blickten auf. Thea äugte unwillkürlich zu Odins Frau, die zur Rechten ihres Gemahls an der Tafel hockte. Als ihre Blicke sich trafen, überlegte Thea, ob die Göttin Traurigkeit oder Wut empfand. Es hatte sich herausgestellt, dass der Allvater am Tod ihres gemeinsamen Sohnes beteiligt gewesen war. Zusammen mit Loki, Gefjon und Balder hatte er beschlossen, der Weissagung der Völva zu entsprechen und Friggs Versuch ihren Sohn unsterblich zu machen mit einem tödlichen Ritual entgegengewirkt, das alle für ein Spiel gehalten hatten. Würde Frigg ihrem Mann jemals verzeihen können? Würde ihm überhaupt jemand der Anwesenden vergeben?
„Was ich tat, tat ich, um den Fortbestand dessen zu sichern, das wir einst erschufen“, verkündete Odin. „Ich werde mich nicht dafür entschuldigen oder rechtfertigen. Wir haben gemeinsam darüber entschieden und waren uns einig, dass es geschehen muss.“
„Mit gemeinsam meinst du dich, Gefjon, Balder und Loki“, grunzte Vidar mit offenem Vorwurf. „Den Rest von uns hast du bei deiner Entscheidung außer Acht gelassen.“
Odins Blick verdunkelte sich. „Euch über die Zukunft zu unterrichten, wäre falsch gewesen. Gefjon hingegen wusste ebenso wie ich um die Dinge, die eintreten würden. Balder hatte ein Recht darauf, sein Schicksal zu erfahren. Um dieses zu erfüllen, brauchte ich Lokis Hilfe, nur deshalb weihten wir ihn ein.“
Heimdall schnaufte. „Natürlich hast du ihn gewählt. Nur Loki konnte so niederträchtig sein, Hödur, einen Blinden, ins Verderben zu stoßen! Du hast deinen eigenen Sohn verraten – zwei von ihnen!“
„Es ist vorausgesagt, dass Hödur und Balder am Ende der Welt aus dem Totenreich zurückkehren und ein neues Midgard anführen. Es war notwendig.“
„Also hast du nur ihre Bestimmung erfüllt“, brummte Tyr sarkastisch.
Odin betrachtete den Kriegsgott mit eisigem Blick. „So ist es.“
Thor warf das Hühnerbein, an dem er kaute, erzürnt auf seinen Teller. „Wie konntest du nur? Du hast Balders Tod herbeigeführt und du hast zugelassen, dass Unschuldige dafür bezahlen!“
Wal-Freya nickte beipflichtend. Sie blickte zu Gefjon. „Was hat dich dazu bewegt, dabei mitzumachen? Als wäre das nicht schlimm genug, hast du dich all die Jahre in Schweigen darüber gehüllt!“
„Wir dachten, es sei das Richtige“, rechtfertigte sich Gefjon.
Thea betrachtete den obersten der Götter. Wie so oft fühlte sie sich klein und unbehaglich in seiner Nähe. Er hatte viele Dinge getan, die ihr Angst machten. Die Asen schoben Loki oft die Schuld für allerlei Dinge in die Schuhe, aber ihrer Meinung nach war der Allvater genauso unberechenbar wie der Feuergott selbst. Seinen Sohn Wali hatte er mit der Riesin Rind gegen deren Willen gezeugt, da es vorhergesagt war, dass nur sie ihm das Kind gebären würde, das Balders Tod rächte. Odins Beteiligung am Tod des Lichtgotts setzte Lokis Bestreben nach einem anderen Schicksal in ein völlig neues Licht. Er hatte nur getan, was Odin von ihm verlangte und bitter für seine Treue bezahlt. Der Zorn, den ihm die anderen entgegenbrachten, war nicht gerechtfertigt. Seit dem Beginn ihrer Reise war es das Ziel der Asen gewesen, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Doch nicht Loki hatte zuerst in das Gefüge der Welt eingegriffen und die Zukunft verändert, es war Odin gewesen! Thea hatte ihren Verdacht schon einmal geäußert, nun zeigte es sich immer deutlicher.
Mithilfe der Gedankensprache nahm sie Kontakt zur Walküre auf: „Er hat alles gestanden. Ich habe es dir in Jötunheim gesagt: Odin hat damit angefangen, alles durcheinanderzubringen. Wenn er sich nicht die Zukunft hätte voraussagen lassen, wäre all das nicht geschehen. Er hätte Fenrir nicht gefesselt und er hätte nicht gewusst, dass Balder sterben würde. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen. Womöglich würde Balder noch leben!“
„Die Nornen legen unser aller Schicksal mit unserer Geburt fest, Thea. Wann begreifst du das endlich?“, erwiderte Wal-Freya.
„Du versuchst doch auch in das Schicksal einzugreifen. Zuletzt mit unserem Vorhaben Balder aus Hel zu holen“, erinnerte Thea.
„Ich wollte die Dinge nur in Ordnung bringen, indem wir die Weissagungen wieder wahrmachen. Nur weil wir Loki keinen Einhalt gebieten können, habe ich mich auf die Sache in Hel eingelassen, aus keinem anderen Grund.“
„Verstehst du nicht? Odin hat lange vor alledem hier versucht Ragnarök zu verhindern. Damit hat er es selbst vorangetrieben.“
Die Wanin nickte. „Da es vorausgesagt war, ist alles gekommen, wie es kommen sollte. Loki hingegen ist nicht an seinem Platz. Er wandelt frei durch die Welten und schmiedet Pläne gegen uns. Ich will, dass sich mein Schicksal erfüllt, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Loki hat die Ordnung durcheinandergebracht. Ich weigere mich, das zu akzeptieren!“
Mutig erhob sich Thea. „Odin, Frigg, ihr alle, bitte hört mich an! Vielleicht kann ich das große Gefüge der Welt nicht verstehen. Ich bin nur ein Mensch. Ich begreife nicht, warum ein Vater seinen Sohn opfert, um dessen Schicksal zu erfüllen, obwohl er