Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750220447
Скачать книгу
Frau kramte hinter der Theke ein Telefonbuch hervor, warf es auf den Tisch und blätterte lustlos darin herum. Rijnders gibt es mehrere, aber Michel Rijnders ... Sie schüttelte schließlich den Kopf. Also in Schagen wohnt der nicht.

      Doch, er wohnt seit Anfang des Jahres hier in Schagen.

      Dann kann er noch nicht im Telefonbuch stehen. Rufen Sie doch de Inlichtingsdienst an.

      Sie meinen die Auskunft? Als die Frau nickte, grinste er linkisch. Dürfte ich Sie bitten, das für mich zu tun. Sie verstehen: die Sprache.

      Nach weniger als einer Minute war die Frau zu dem selben Resultat gekommen, das schon das lustlose Blättern im Telefonbuch erbracht hatte: ein Michel Rijnders wohnte nicht in Schagen.

      Welche Möglichkeit gibt es denn noch?

      Die Frau hob gelangweilt die Schultern. Sie können es bei der Gemeinde versuchen; aber - sie schüttelte mit skeptischem Gesichtsausdruck den Kopf - da brauchen Sie schon einen triftigen Grund. So ohne weiteres wird man Ihnen dort keine Auskunft geben.

      Die offensichtliche Skepsis der Frau hatte ihn unsicher gemacht. Er fühlte sich plötzlich geradezu genötigt, ihr zu erzählen, dass dieser Michel Rijnders ein alter Bekannter aus Arnhem sei; man habe sich über ein halbes Jahr nicht getroffen, und von Nachbarn habe er nur erfahren können, dass dieser Bekannte vor ein paar Wochen nach Schagen verzogen sei; und da er beruflich gerade in der Gegend beschäftigt gewesen sei, wolle er die Gelegenheit einfach nutzen. Dem Gesichtsausdruck der Frau konnte er entnehmen, dass sie ihm die Geschichte nur mit Mühe abnahm.

      Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.

      Wie denn?

      Mein Schwager ist bei der Polizei, und da sind viele Dinge möglich, die eigentlich nicht möglich sind.

      Das wäre wirklich sehr nett. Er bedankte sich fast übertrieben freundlich, meinte, dass er das Zimmer auf jeden Fall noch einen weiteren Tag, eventuell sogar noch länger benötige und verabschiedete sich. An der Tür drehte er sich noch einmal um. Ach sagen Sie bitte: gibt es hier ein Krankenhaus?

      Ein Krankenhaus? Dem Blick der Frau nach zu schließen hatte er durch diese Frage allen Kredit ganz offensichtlich schon wieder verspielt.

      Mein Bekannter arbeitet nämlich im Krankenhaus. Ich könnte dort vorbeifahren und mich erkundigen.

      Es gab in Schagen und unmittelbarer Umgebung zwei Krankenhäuser, deren Namen und Adressen die Frau auf einen Zettel notierte. Dann verließ er das Hotel.

      Er frühstückte in einem Cafe in der Nähe des Hotels. Trotz seiner wie er meinte anderen immer offensichtlichen Beklemmung ließ er sich viel Zeit, ging dann zu seinem Wagen, den er in einer Seitenstraße geparkt hatte und fuhr los.

      Es war gerade einmal eine Stunde später, als er den Wagen wieder in einer der Seitenstraßen der Fußgängerzone abstellte und nun mit Sicherheit wusste, was er seit seinem Erwachen heute Morgen geahnt und noch mehr befürchtet hatte: auch in den beiden Krankenhäusern hier kannte man Michel nicht, und nun hatte er nicht mehr die geringste Vorstellung davon, was er machen sollte. Hatte er noch vor einer Stunde die Menschen in der Fußgängerzone als angenehme Ablenkung von seinen nur auf sich selbst bezogenen Gedanken empfunden, war ihm die hektische Betriebsamkeit nun geradezu zuwider.

      Er hasste es, nicht zu wissen, was er tun sollte. Schon immer hatten ihn Tage, an denen er sich nichts vorgenommen hatte, verrückt gemacht. Tage, die keine feste Struktur hatten, konnten ihn in Panik versetzen, ihn regelrecht depressiv machen. Auch in diesem Punkt war Michel ganz anders. Du kannst einfach nicht genießen: Michel fand es großartig, ganze Tage im Bett zu verbringen, einfach gar nichts zu tun.

      Vor allem die Sonntagnachmittage waren ihm schon immer ein Gräuel gewesen, eine Art befohlener Langeweile im Kreise der Familie. Sogar die häufigen Pflichtbesuche bei Lisas Eltern waren an solchen Tagen meist eine willkommene Abwechslung gewesen.

      Lisas Eltern! Er durfte nicht daran denken! Man konnte sich an den Fingern einer Hand ausrechnen, was die Schwiegereltern sagen würden, wenn Lisa ihnen erzählte: Stellt euch mal vor, Gerd ist schwul. Aus irgendeinem Grund hatte er sich von Lisas Eltern nie vollständig akzeptiert gefühlt, und wenn Lisa sich hatte bescheinigen lassen wollen, dass sie im Recht war, dann war sie immer zu ihrer Mutter gelaufen, und damit war ihr auch die Zustimmung ihres Vaters sicher gewesen; der Schwiegervater hatte wahrscheinlich noch nie eine andere Meinung gehabt als die, die seine Frau zugelassen hatte. Obschon es ihm nun geradezu Spaß machte, zumindest in seinen Gedanken über die Schwiegereltern herzuziehen, blieb das mulmige Gefühl: Hatte Lisa möglicherweise schon mit ihren Eltern gesprochen? Eines war klar: zu lachen gab es dann für ihn gar nichts mehr.

      Lisas Mutter machte zwar immer auf vornehm, auf große Dame, aber in Wirklichkeit hatte er sie nur kennen gelernt als eine eiskalt berechnende Frau, die schamlos und ohne alle Rücksichtnahme jede Situation zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen wusste. Er glaubte plötzlich, sich die Konfrontation mit ihr schon bis ins Detail vorstellen zu können.

      Hast du dir eigentlich schon einmal überlegt, was durch deine Eskapaden allein finanziell auf dich zukommen wird? Unterhaltszahlungen für deine Frau und drei Kinder, mein Lieber. Man heiratet doch nicht, setzt drei Kinder in die Welt und verabschiedet sich dann einfach.

      Tut man ja auch nicht, dachte er wütend; wenn man es so ausdrückte, konnte er ja nur im Unrecht sein. Aber andererseits: Wie sollte man es denn ausdrücken?

      Es geht doch hier gar nicht um schuldig oder unschuldig sein, hatte Michel ihm schon oft gesagt. Je eher du das einsiehst, umso besser.

      Ich kann es ruhig einsehen; andere werden aber genau so argumentieren.

      Und über das, was im Falle einer Trennung allein an juristischem Kleinkrieg und finanziellen Verpflichtungen noch auf ihn zukommen musste, hatte er schon deshalb noch nicht eine Sekunde nachgedacht, weil er über eine Trennung von Lisa noch niemals ernsthaft nachgedacht hatte.

      Lisa allerdings sofort: Ich nehme mal an, dass du die Scheidung willst?, hatte sie gestern mehrfach gefragt.

      Nein. Ich will keine Scheidung.

      Wie stellst du dir das denn in Zukunft vor? Glaubst du vielleicht, ich akzeptiere einen Ehemann mit schwulem Freund? Du kannst das nicht im Ernst glauben. Dann ist es aus, und die Schuld daran liegt bei dir. Einzig und alleine bei dir.

      Lisa sprach von seiner Schuld, weil sie ihn liebte und ihn nicht verlieren wollte; davon war er überzeugt. Ein Gefühl, zu dem er die Schwiegermutter gar nicht für fähig hielt: Wie willst du das denn überhaupt machen? Gerade jetzt, wo es um eure Bildungsakademie alles andere als gut aussieht?

      Lisas Mutter hatte immer schon die Fähigkeit besessen, das Wort Bildungsakademie in Anführungszeichen auszusprechen. Eine Einrichtung zur beruflichen Weiterbildung war für sie ganz offensichtlich so etwas wie eine Besserungsanstalt für straffällig gewordene Jugendliche und arbeitsscheue Sozialhilfeempfänger. Und wenn sie mit Dritten über ihn sprach, dann war er auch nicht kleiner Angestellter einer Einrichtung zur beruflichen Weiterbildung, sondern einfach nur Akademiker. Mein Schwiegersohn ist ja auch Akademiker. Promovierter Akademiker. Weshalb hatte er sie eigentlich noch nie gefragt, über welche Qualifikation sie denn eigentlich verfügte außer der, sich einen über alle Maße langweiligen Juristen mit Pensionsberechtigung an Land gezogen zu haben?

      Der Rest stimmte leider. Die Arbeitsverwaltung hatte die Mittel für Umschulungen in den letzten Monaten drastisch zusammengestrichen, die Orientierungskurse für Langzeitarbeitslose und Spätaussiedler waren allein im letzten Jahr um über die Hälfte zurückgegangen. Drei Abteilungen hatten sie schon zugemacht. Zuerst waren die Honorarkräfte gefeuert worden, aber es hatte auch schon einige festangestellte Kollegen erwischt. Ohne an Michel auch nur im Traum gedacht zu haben, hatte die Angst um die eigene berufliche Zukunft schon vor Monaten für schlaflose Nächte gesorgt.

      Da Lisas Mutter als Beamtengattin über derart profane Dinge nicht die Spur einer Ahnung haben konnte, würde auch sie sehr schnell auf den vermeintlichen Kern des Problems kommen: Kommst du dir nicht selber schäbig vor? Warum hast du Lisa überhaupt geheiratet? Du hast das doch von Anfang an gewusst.

      Was