Sie entschied sich, den Inhalt des mittleren Fläschchens solange zu benutzen, wie sie in diesen Räumen verweilte. So konnte sie ihre eigene Phiole noch verstaut lassen und brauchte nicht zu befürchten, dass der Duft mit der Zeit verflog, wenn sie den Deckel öffnete. Kyla nahm die Laterne und ging in den nächsten Raum. Er war sehr groß, und sie hätte beinahe das Bett übersehen, das hinter Vorhängen verborgen war. Das war also ihr Schlafgemach. Kyla befühlte die Matratze – sie war angenehm. Vielleicht sollte sie sofort zu Bett gehen. Doch sie entschied sich, auch die weiteren Räume zu erkunden. Einer war jedoch vollkommen leer, während ein anderer klein und komplett mit Dingen zum Reinemachen voll gestellt war. Offenbar hatte man wirklich noch nicht mit ihrem Aufenthalt im Gasthaus gerechnet, ansonsten hätte man diese Dinge wohl an einem anderen Ort untergebracht. Kyla kehrte in das Hauptzimmer zurück und ließ ihren Blick über die Bücher schweifen, die Lylha ihr gebracht hatte. Einige davon kannte sie bereits. Es waren Werke, die über das alte Chyrrta berichteten. Ob sie der Wahrheit entsprachen, wagte Kyla zu bezweifeln, denn in keinem von ihnen war davon die Rede, dass die Wasser einst rein und ungefährlich gewesen waren. Vielmehr schien es so, als hätte Olha damals recht gehabt, als sie Kyla erklärte, dass sie lernen würde, selbst einzuschätzen, was sie glauben durfte, und was nicht.
Damals hatte Kyla nicht mal einen einzigen Buchstaben gekannt, und sie hatte es ihrer Ziehmutter zu verdanken, dass sie das Lesen und Schreiben erlernt hatte. Das schien so unglaublich lange her zu sein, dass es ihr vorkam, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Mit Wehmut dachte sie an die meist freundliche Olha zurück. Sie hatte ihr vieles zu verdanken. Kylas Fingerspitzen strichen über einen Einband aus dunklem Leder. Es befand sich kein Titel darauf. Sie schlug das Buch auf und begann die ersten Zeilen zu lesen.
Diese berichteten von einem großen Untier, das ganze Dörfer niedertrampelte. Die Chyrrta schlossen sich zusammen, um die Gefahr gemeinsam zu bekämpfen. Kyla dachte darüber nach. Was mochte Paraila wohl von diesem Buch halten, wo sie doch so sehr darauf bedacht war, dass ihr Volk jeglichen Zusammenschluss zum Kampfe unterließ – einzige Ausnahme waren Kyla und die Reiter der Herrscherin. Nur sie als Kämpferin und die Männer, die sich in Parailas Dienst gestellt und ihr bedingungslose Treue geschworen hatten, durften gemeinsam in den Kampf ziehen. Doch Kyla wusste, dass es mit der Zeit immer schwieriger werden würde, dem gegnerischen Ansturm von jenseits der Undurchdringlichen Mauern Stand zu halten. Irgendwann würde sich jeder Chyrrta in Parailas Reich darauf einstellen müssen, das Land zu verteidigen, auf dem er lebte. Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Die Reiter der Herrscherin würden in der nächsten Zeit auch ohne sie und ihre taktischen Überlegungen auskommen müssen, denn Kyla hatte eine Aufgabe zu erledigen. Sie sollte Quyntyr ausfindig machen, den Paraila vor den Augen aller hinrichten lassen wollte.
Kyla hatte jedoch ihre ganz eigenen Gründe, warum sie ihren ehemaligen Kampflehrer unbedingt finden wollte. In einem Brief hatte er ihr offenbart, mehr über sie zu wissen, als sie selbst es tat. Vielleicht hatte er es nur geschrieben, um sie dafür zu bestrafen, dass sie ihm den Befehl gegeben hatte, sie vor aller Augen zur Frau zu machen. Aber möglicherweise hatte er tatsächlich Wissen über sie, das Kyla verborgen geblieben war. Quyntyr hatte sie bislang niemals belogen, soweit sie das beurteilen konnte. Es war immerhin denkbar, dass er auch in seinem Brief die Wahrheit geschrieben hatte. So oder so würde sie es herausfinden müssen. Doch was sie tun sollte, wenn sie ihn am Berg Ultay fand, wusste Kyla jetzt noch nicht.
Würde sie ihn festnehmen und Parailas grausamer Rache ausliefern, die vielleicht gar nicht gerechtfertigt war? Doch was blieb ihr sonst schon übrig? Sie hatte ihrer Herrscherin einen Schwur geleistet – den, ihr immer treu zu dienen. Wenn sie Quyntyr nicht auslieferte, würde sie ihr Gelübde brechen. Kyla verfluchte sich selbst dafür, weil sie sich all diese Gedanken machte, während sie auf dem Weg ins Bett war. Sie nahm sich vor, augenblicklich damit aufzuhören und die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Sie ließ die Vorhänge geöffnet, denn so konnte sie durch das Fenster nach draußen blicken. Es war kaum zu glauben, dass sie immer noch die gleichen Sterne wie von den Palastfenstern aus sah. Chyrrta war eine kleine Welt – doch sie war voller großer Probleme.
»So wird das nichts. Konzentriere dich gefälligst auf deine Aufgabe!«
Das war doch Zygals Stimme! Aber das konnte nicht sein ... Kyla sprang aus dem Bett und blickte aus dem Fenster. Sie war noch vom Schlaf benommen, doch sie erkannte, dass es nicht ihr Ziehvater gewesen war, der die Rüge erteilte, sondern ein vollkommen anderer Mann. Vom Leibesumfang her entsprach er tatsächlich Zygal, doch der Rest wollte so gar nicht stimmen. Es war ein kahlköpfiger, breitnasiger Händler, der einen jungen Burschen harsch anwies, wie er den Stand aufzubauen hatte.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch Kyla konnte im Schein der zahlreichen Fackeln sehen, dass auf dem Marktplatz bereits rege Betriebsamkeit herrschte. Männer und Frauen bereiteten sich darauf vor, ihre Waren feilzubieten. Das Licht war zu schwach, als dass Kyla in einiger Entfernung Einzelheiten hätte erkennen können, aber sie war sich sicher, dass es alles geben würde, was das Herz begehrte. Ihr Körper hingegen begehrte momentan lediglich mehr Schlaf. Also ging Kyla ins Bett zurück, zog sich die Decke bis zum Kinn und schloss die Augen. Sie hörte den Händler wieder schimpfen, der sie geweckt hatte. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Zygals Stimme war eindeutig vorhanden – und es tat ihr weh, das zu hören. Wie sehr sie diesen grobschlächtigen Mann immer noch vermisste, obwohl er und Olha inzwischen bereits seit vielen Jahreszeiten tot waren. Wären sie stolz auf sie, wenn sie sie heute sehen könnten? Immerhin hatten sie alles getan, um sie auf ihre Aufgaben als Kriegerin vorzubereiten. Doch was hatte sie bislang schon wirklich erreicht?
Sie hatte viele Schlachten angeführt und sie erfolgreich geschlagen. Sie verteidigte ihre Herrscherin und das Reich gegen Feinde und Gefahren. Zudem versuchte sie immer, anderen Chyrrta zu helfen, wo es nur ging, aber reichte das? Waren diese Dinge eine Berechtigung, den Stand einer Kriegerin einzunehmen? Noch dazu eine, die am Palast lebte, und der alle dienen mussten, außer der Herrscherin selbst? Kyla drehte sich zur Seite und bettete ihren Kopf bequemer auf dem Kissen. Was nutzten schon diese Gedanken? Die Umstände waren nun einmal so, wie sie waren. Und sie führte zwar ein privilegiertes Leben, doch es konnte auch jederzeit gewaltsam enden. Jeder Kampf, jede auch noch so kleine Auseinandersetzung, zu der sie gerufen wurde, konnte ihren Tod bedeuten. Oftmals gab sie Dorfbewohnern den Rat, Ärger aus dem Weg zu gehen – insbesondere denen, die junge Kinder hatten. Für sie selbst galt dieser Rat jedoch nicht, denn es war ihr Schicksal, sich einzumischen, wann immer Gefahr drohte.
Kyla war gerade wieder eingeschlafen, da schwoll der Lärm draußen erneut an. Es polterte – gefolgt vom Brüllen des Mannes, dessen Stimme Kyla inzwischen zu Genüge kannte. Sie seufzte und gab ihren Plan, noch länger zu schlafen, endgültig auf. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass der Stand des Kahlköpfigen zusammengebrochen war. Schuld daran war wohl sein Gehilfe, der mit eingezogenem Kopf die Schimpftirade über sich ergehen ließ. Der junge Mann tat Kyla leid. Ihr blieb jedoch keine Zeit, sich darüber länger Gedanken zu machen, denn bereits im nächsten Moment klopfte jemand an ihre Tür.
»Wer ist da?«, rief Kyla. »Ich bin es, T’hana. Yola lässt Euch ausrichten, dass Euer Frühstück bereitsteht. Möchtet Ihr es im Speisesaal einnehmen?«
Kyla seufzte leise, dann rief sie: »Ja, ich komme gleich.« Man hielt offenbar nicht viel von Langschläfern in dieser Stadt. Kyla hätte T’hana lieber geantwortet, dass sie in ihren Räumen frühstücken wollte, aber ganz sicher würde man es ihr übelnehmen, wenn sie nicht die Gasträume nutzte, die eigens für sie hergerichtet worden waren. Während sie ihre Kampfkleidung anlegte, fragte sich Kyla insgeheim, warum sie überhaupt so diplomatisch war. Paraila blieb in solchen Fällen bestimmt nichts anderes übrig, als die Dienste ihrer Gastgeber in Anspruch zu nehmen. Aber sie selbst war keine Herrscherin, die den Regeln der Höflichkeit Genüge tun musste, sondern eine Kriegerin, die die meiste Zeit ihres Lebens mit den Gewalttätigkeiten